: Eine MVV als kommunikationsfreudiger Akt
■ Parteienverdrossenheit: Die SPD versucht mit einer Mitgliedervollversammlung neue Wege in der Parteiarbeit/ Skepsis bei den Funktionären im Mittelbau
Berlin. Es ist eine bei Politikern verbreitete Neigung, bei erkannten Mißständen, Diagnosen entsprechend den ihnen zur Verfügung stehenden Therapien zu formulieren. Das behebt zwar nicht unbedingt den beklagten Zustand, ermöglicht aber, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Für Ditmar Staffelt ist die vielbeschworene Verdrossenheit an der Politik keine, die der Sache selbst, sondern eigentlich den Akteuren gilt. Der „Politikerverdrossenheit“ wollte der Landesvorsitzende der SPD begegnen, indem er sein Parteivolk zum Mittwoch abend in die Kongreßhalle am Alexanderplatz lud. Damit beabsichtigte er, frühzeitig der Gefahr vorzubeugen, daß sich der besagte Überdruß an seiner eignen Person entfalten könnte. Staffelts Therapie hat angeschlagen, fast jedes zehnte SPD- Mitglied fand den Weg zu dieser unorthodoxen Veranstaltung, für den Vorsitzenden boten die 2.000 in der Halle die berühmte Gelegenheit zum Bad in der Menge. Er genoß es weidlich.
Grund zur Freude bot ihm nicht nur der Zuspruch, sondern auch die Tatsache, daß er mit der Veranstaltung einen ersten eigenen Akzent als Vorsitzender in der Parteiarbeit gesetzt hat. Ein Akzent, der nicht unumstritten war, hing doch Mitgliedervollversammlungen in sozialdemokratischen Kreisen der Ruch alternativer Unübersichtlichkeit an, denen die straffe Willensbildung eines ordentlichen Parteitages allemal vorzuziehen sei. Noch für Staffelts Vorgänger Walter Momper war zu rot-grünen Regierungszeiten die MVV Synonym für die Regierungsunfähigkeit des Koalitionspartners. Und nun, so vernahmen am Mittwoch abend die versammelten Sozialdemokraten, soll diese Basisdemokratie, von der sich die Grünen gerade so mühevoll verabschiedet haben, Einzug in die eigenen Reihen halten. Die Mitglieder, verkündete Staffelt, sollen zukünftig über zentrale Fragen der Politik entscheiden, denn wer für Plebiszite sei, müsse dies auch in der eigenen Partei praktizieren. Den gewohnten Proporz will er ändern, indem der Osten in den Parteigremien zukünftig mehr Stimmen erhält, als ihm nach der Mitgliederzahl zustehen. Er will zudem die Partei öffnen, externe Experten sollen in den Fachausschüssen mitdebattieren. Auf dem Parteitag im März soll dies im Statut verankert werden.
Staffelt erhielt dafür Applaus, doch war die Zustimmung nicht ungeteilt. Ein Kreisverband blieb gar der Veranstaltung fern. Vor allem dem Mittelbau der Partei bereiten die angestrebten Änderungen Bauchschmerzen. Die Aktivisten der Partei sehen die Ernte all ihrer Mühen in Gefahr, wenn begehrte Posten und Mandate bevorzugt an Seiteneinsteiger und Ostbonusträger verteilt werden. Deshalb warnten selbst so eingefleischte Parteilinke wie der Kreuzberger Bürgermeister Peter Strieder vor dem Eindruck, daß eine solche Versammlung etwas mit Demokratisierung der Partei zu tun habe. Nicht in den Strukturen der Partei diagnostizierte er die Mängel, sondern in der aktuellen Politik. Die Genossinnen und Genossen blieben weg, „weil sie eh nichts zu sagen haben“, und dies sei ein Problem der Großen Koalition. Für Große Koalition steht innerhalb der SPD der Name Staffelt, sein Opponent Strieder verbuchte den Abend denn auch unter dem Stichwort „Staffelts Selbstdarstellung“.
Die Veranstaltung bot bei genauerem Hinsehen wenig Anlaß zu Reformoptimismus; so glich die Plenardebatte eher einer überdimensionierten Bürgersprechstunde denn einer Parteiversammlung. Die aus dem Publikum vorgebrachten Kakerlaken in einem Marzahner Altersheim und die überflüssige Olympiaplanung dominierten als Thema eindeutig gegenüber den eigenen Strukturen. Und auch die versammelte Senatoren- und Funktionärsgarde konnte nicht anders, als in der sattsam bekannten professionellen Politikerfürsorge auf alles zumindest eine Antwort zu geben.
Die einer Flügelstellung unverdächtige Justizsenatorin Jutta Limbach wertete den Abend denn auch bescheiden als einen „kommunikationsfreudigen Akt“, der jedoch nicht der Willensbildung gedient habe. Nichtsdestotrotz sah sich Staffelt bestärkt. Er habe, so sein Resümee, eine Unterstützung für die Reform der Partei erhalten. Dieter Rulff
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