piwik no script img

Eine Karotte oder 150 Busfahrkarten

■ Nicaragua: Die Wirtschaft im Lande Sandinos ist ruiniert / Die Kaffee–Lieferverträge werden storniert / Der Krieg verhindert jeden Aufschwung / Der Lebensstandard ist tiefer als zu Zeiten der Somoza–Diktatur / Bizarre Verzerrungen im Preisgefüge als Folge der Wirtschaftsstruktur

Aus Managua Ralf Leonhard

Auch nach der jüngsten Benzinpreisverdopplung kann man in Nicaragua für den Gegenwert von einem US–Dollar volltanken. Der Treibstoffpreis bleibt der niedrigste in Zentralamerika. Dennoch ist die Maßnahme, die jüngst mit einer Serie von weiteren Einsparungen, die gleichzeitig verordnet wurde, alarmierend. Denn sie führt den Nicaraguanern drastisch vor Augen, daß der Ausdruck Überlebenswirtschaft, den die Staatsführung so gerne gebraucht, nicht übertrieben ist. Die Importe sollen laut Bernardo Chamorro, Vizeminister für Außenhandel, von 880 Millionen Dollar im Vorjahr auf 750 Millionen 1987 gedrosselt werden. Von den Kürzungen werden alle Bereiche betroffen: Rohstoffe, Investitionsgüter, Treibstoff. Einzig die Verteidigung und der produktive Bereich, namentlich die Agrarexportwirtschaft werden bevorzugt behandelt. Exportiert wurde im Vorjahr für 218,6 Millionen Dollar ( 1981: 499 Mio) - ein Rekordtief. Dieses Jahr sollte die Ausfuhr wieder auf 330 Millionen ansteigen. Die optimistischen Erwartungen wurden jedoch nach dem Kaffeepreisverfall zum Jahresbeginn auf 280 Millionen hinunterkorrigiert. Chamorro: „Der Krieg erlaubt uns keinen Aufschwung.“ Einzig der Bergbau hat im Vorjahr ein solides Wachstum von 31,5 Prozent verzeichnen können und ist auf weitere Steigerung programmiert. Es konnten neue Maschinen eingesetzt und die Energieversorgung der Förderungsanlagen stabilisiert werden. Rund 50.000 Unzen Feingold wurden gewonnen, die allerdings von ausländischen Banken als Sicherheitspfand für ausstehende Kreditzahlungen beansprucht werden. Daß Nicaragua im internationalen Vergleich gar keine Ausnahme darstellt, beweist die Situation der zentralamerikanischen Nachbarn, wo das Bruttoinlandsprodukt/Einwohner zwischen 1981 und 1986 überall verfallen ist. Nicaragua liegt mit einem Minus von 14,1 Prozent im guten Mittelfeld zwischen Costa Rica (11,0 (20,7 Unterschied zu Nicaragua nicht die Hälfte seiner Ressourcen in die Verteidigung stecken. Und El Salvador (16,7 USA mit täglich zwei Millionen Dollar subventioniert. Import vom Osten - Export nach Westen Das Problem in Nicaragua ist jedoch nicht rein konjunktureller Art. Ein unabhängiger Wirtschaftsexperte weist darauf hin, daß sich die Exportstruktur seit Somoza kaum verändert habe. Obwohl die Revolution die Abhängigkeit von der Rohstoffausfuhr abbauen sollte, wird nach wie vor in den Anbau der traditionellen Exportgüter Kaffee, Baumwolle und Zucker am meisten investiert. Hochfliegende Pläne, die Verarbeitung der Rohstoffe ins Inland zu verlagern und Halbfertigwaren oder Fertigprodukte zu verkaufen, sind bisher kläglich gescheitert. Vizeminister Chamorro bestätigt, daß 93 Prozent der Baumwolle und 87 Prozent des geernteten Kaffees exportiert würden. Nur der Rest von notorisch minderer Qualität bleibt im Lande. Zum Eigenkonsum und - sieht man von geringen Mengen löslichen Kaffees ab - nicht zur Ausfuhr in verarbeiteter Form. Obwohl ein eigener Fonds zur Förderung nichttraditioneller Exporte eingerichtet wurde, machen diese kaum mehr als zehn Prozent des Gesamtexporterlöses aus. Dabei rechtfertigen auch die traditio nellen Ausfuhrgüter, mit denen Nicaragua seit Jahrzehnten sein Einkommen erzielt, keineswegs den Aufwand. Die Kaffee–Ernte ist auch dieses Jahr weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, so daß Nicaraua zum zweiten Mal hintereinander Lieferverträge stornieren mußte. Leidtragende sind unter anderen die auch alternativen Kaffeevermarkter der Solidaritätsszene. An der Exportfront mußte Nicaragua noch weitere Schläge einstecken. Mit den arabischen Staaten Algerien, Libyen und Iran, die in den vergangenen Jahren gute Kunden für Zucker, Bananen und Rindfleisch waren, gibt es aus Mangel an diesen Produkten 1987 überhaupt keinen Handelsverkehr. Den intensivsten Warenaustausch (Aus– und Einfuhr zusammengenommen) betreibt Nicaragua mit den RGW–Staaten (1986: 47,6 auch taz vom 8. Juli). Was die Exporte allein betrifft, liegt Westeu ropa allerdings mit 47,8 Prozent vor dem sozialistischen Block (21,0 Gros der Güter, die traditionell in die USA verkauft wurden, nach dem Handelsembargo Reagans in die EG–Staaten und nach Skandinavien umgeleitet werden konnte. Die Bundesrepublik Deutschland ist der bedeutendste Kaffeeabnehmer, gefolgt von Spanien und der DDR. Zumindest in der staatlichen Investitionspolitik hat man inzwischen die Konsequenzen gezogen. Wurde früher fast alles Kapital in agroindustrielle Großprojekte von zweifelhafter Rentabilität gesteckt, so hießen die Leitlinien 1986: „Vorrang für Investitionen in Reparatur und Erhaltung bestehender Produktionskapazität“ und „Umorientierung der Investitionslogik von langfristigen Großprojekten zu kurzfristig rentablen Kleinprojekten, die den Möglichkeiten des Landes angepaßt sind“. Acht Fotokopien oder drei Bände Marx Der Konsument bekommt die Krise in Form von neuen Steuern und ständig steigenden Preisen zu spüren. Während die Löhne in diesem Jahr in drei Etappen insgesamt verdoppelt wurden, hat die Inflation in den ersten acht Monaten nach inoffiziellen Schätzungen schon 1.000 Prozent erreicht. Trotz des Ansteigens von Konsum und Lebensniveau in den ersten Revolutionsjahren geht es den meisten Nicaraguanern heute - wirtschaftlich gesehen - schlechter als unter Somoza. Das Prinzip der Mischwirtschaft, das in Nicaragua verfolgt wird, verhindert wirkungsvolle staatliche Kontrolle über die Güterverteilung. 60 Prozent der Produktion sind in privater Hand. Andererseits widerspräche die völlige wirtschaftliche Liberalisierung dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Daher versucht der Staat auf der einen Seite den Arbeitern und bestimmten Staatsangestellten Zugang zu einem subventionierten Warenkorb zu verschaffen und auf der anderen Seite die stagnierende Produktion durch Anreize für die Produzenten und Freigabe der Preise zu stimulieren. Preise und Tarife, die der Staat kontrollieren kann, sind nach wie vor geradezu lächerlich niedrig. So kommt es zu bizarren Verzerrungen im Preisgefüge: Für den Preis einer Karotte etwa kann man 150 mal mit dem städtischen Bus fahren und für den Wert von acht Fotokopien bekommt man eine dreibändige Ausgabe von Karl Marxens Kapital. Der Buchhalter Roger Gonzalez, der seinen Job verlor, weil er nicht zum Reservewehrdienst einrücken wollte, betätigt sich jetzt als Eisverkäufer und verdient dreimal mehr als vorher. Der zehnjährige Kaugummiverkäufer an der Straßenecke kommt auf einen Monatsschnitt, der den eines Ingenieurs im Staatsdienst um das Dreifache übersteigt. Aus dieser Situation erklärt sich die enorm hohe Personalrotation in den Betrieben, die die Erfüllung der Produktionsziele praktisch unmöglich macht. Häufige Stromausfälle, die die rachitische Industrie oft stundenlang lahmlegen, verhindern jeden Aufschwung. Die Ausfälle müssen von freiwilligen Arbeitsbrigaden, zusammengesetzt aus Gewerkschaftsaktivisten und Parteimitgliedern, in Wochenendschichten eingebracht werden. Das Ende der wirtschaftlichen Talfahrt - in diesem Punkt sind sich Wirtschaftsexperten und Politiker einig - kann erst erreicht werden, wenn in Zentralamerika Friede herrscht. Das weiß auch die Regierung in Washington, die alles daran setzt, den Krieg gegen die Sandinisten in Gang zu halten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen