Eine Jugend in den 80ern: Mein toter Schwager
Was bleibt von einem Menschen, dessen Leben schon mit 22 Jahren zu Ende war? Eine Spurensuche in der eigenen Familie.
Der Vater
An dem Tag, an dem ich nach Rüdiger frage, nimmt mich sein Vater mit ins Arbeitszimmer und erzählt mir von einem Tennisspieler. Er macht die Tür hinter sich zu, was er sonst nur tut, wenn eine Sportübertragung läuft, die er sich in Ruhe ansehen will, nimmt ein dunkelgrünes Fotoalbum aus dem Regal und schlägt die erste Seite auf. Zu sehen ist ein Schwarzweißfoto, aufgenommen während eines Ballwechsels. Auf der linken Platzhälfte steht ein dunkelhaariger Spieler in einem gestreiften Shirt, einen Schläger in den Händen. Rüdiger, fünfzehn Jahre alt.
Dieses Motiv zieht sich durch das Buch. Rüdigers T-Shirts sind mal längs und mal quer gestreift, mal hält er einen Pokal, mal inspiziert er die Inschrift eines silbernen Tellers, den er gewonnen hat. Aber immer sieht man ihn im Rahmen seiner Lieblingsbeschäftigung. Seite 2, Seite 13, Seite 25: ein Heranwachsender, ein Teenager, ein junger Erwachsener, der Tennis spielt.
Ich habe mir dieses Album, das Archiv von Rüdigers sportlicher Laufbahn, seitdem wieder und wieder angesehen. 1978, mit elf, wird er Vereinsmeister der Herren in seinem Heimatverein. 1982, mit fünfzehn, wird er Dritter der Rheinhessen-Meisterschaft – wieder der Herren. 1983, mit sechzehn, gewinnt er sie. 1984 wird er Rheinland-Pfalz-Saar-Meister der Jugend. Einen großartigen Erfolg nennt es die Zeitung. Im selben Jahr schlägt er im Halbfinale der Henner-Henkel-Endrunde Carl-Uwe Steeb 6:4, 6:3 und spielt bei den deutschen Herrenmeisterschaften: „Ein Top-Talent aus dem Südwesten“.
Die deutsche Jugendrangliste 1984:1. Boris Becker5. Patrik Kühnen9. Carl-Uwe Steeb10. Rüdiger
1985 siegt er in der Halle in Dudenhofen. Tennis-Camp. „Der alte und neue Rheinhessenmeister heißt …“ Aufstieg in die Regionalliga. „Der 18-Jährige gewann im Finale überzeugend mit 6:2, 6:2.“ Ausfallschritt, einhändige Rückhand, eingesprungene Vorhand, Sprungaufschlag. Sandplatz, Hartplatz, Halle.
Das Album endet mit einem Ausriss aus der Zeitschrift des rheinhessischen Tennisverbands von 1989; aus dem Jahr, in dem die deutsche Mannschaft um Becker, Steeb und Kühnen den Davis-Cup verteidigt, in dem die Tennisbegeisterung in Deutschland auf ihrem Höhepunkt ist. Es ist ein Nachruf.
Die Mutter
An dem Tag, an dem ich Rüdigers Mutter nach ihrem Sohn frage, setzt sie sich mit mir an den großen Tisch im Esszimmer und erzählt mir von einem schüchternen Jungen, der sich hinter ihren Beinen versteckt, wenn es an der Tür klingelt.
Das Fotoalbum, das sie aus dem Regal nimmt, um Anekdoten daraus zu schöpfen, ist weiß-blau kariert. Es beginnt mit einer Geburtsanzeige, die seinerzeit in der Lokalzeitung erschienen ist. Rüdiger, geboren am 2. Juni 1966 um 2.37 Uhr in Mainz. 52 Zentimeter groß, 3400 Gramm.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Rüdiger ist ein freundliches Baby, so sagt es die Mutter. Wenn seine Patentante zu Besuch kommt und ihn aus der Wiege nimmt, strahlt er übers ganze Gesicht.
Als seine Schwester auf die Welt kommt, ist Rüdiger fünfeinhalb. Manchmal sitzt er neben ihr auf der Couch und summt eine Melodie, die er im Kindergarten gelernt hat.
1972 gründen die Eltern mit Freunden einen Tennisverein in ihrem Dorf. Eine Idee der Mutter. Der Deutsche Tennis-Bund wächst in dieser Zeit jährlich um mehrere tausend Mitglieder; und die Freunde spielen ohnehin alle Tennis. Warum also nicht zusammen? Das ist der Gedanke, der alle überzeugt. Sie legen die Plätze selbst an. Die Familie verbringt von nun an praktisch jedes Wochenende auf der Anlage.
An seinem ersten Schultag im August trägt Rüdiger weiße Socken, ein Polohemd und kurze Hosen. Seine Schultüte zeigt einen gestiefelten Kater.
Die Schwester
Zum ersten Mal von Rüdiger hörte ich an dem Tag, an dem ich nach der Arbeit mit seiner Schwester Jutta verabredet war.
„Hast du Geschwister?“, fragte sie. Ich hielt das für Small Talk.
„Zwei“, sagte ich, „und du?“
„Ich habe einen Bruder, aber er lebt nicht mehr.“
Im Grunde gehörte er von diesem Moment an zu meiner Geschichte. Ich wusste das damals natürlich nicht. Es war ihre Geschichte. Dass wir unsere Leben miteinander verschränken würden, dass vieles von dem, was sie angeht, auch mich betreffen würde und vieles, was mich betrifft, auch sie, war nach den ersten Begegnungen nicht ausgemacht.
Seit mehr als elf Jahren sind sie und ich ein Paar. Wir haben Kinder, wir tragen Ringe, wir suchen gemeinsam Waschmaschinen aus und einigen uns auf Wandfarben und Urlaubsorte. Meine alte Weltkarte ist nun auch ihre; ihre große, gerahmte Fotografie des zeternden John McEnroe betrachte ich auch als meine.
Aber es gab immer wieder Momente, in denen sich ihr früheres Leben über die Gegenwart stülpte.
An Tagen, deren Datum ich mir lange nicht merken konnte, fuhr sie durchs halbe Land, damit ihre Eltern an seinem Geburts- und Todestag nicht allein wären.
Als sie vor der Geburt unseres ersten Kindes ihre Tasche für den Kreißsaal packte, bat sie mich, ihr das gelbe T-Shirt aus dem obersten Schrankfach zu holen; das sei so schön weit, sagte sie. Ich könne ihr auch ein weites T-Shirt von mir geben, sagte ich. Doch sie bestand auf ihrem. Es trägt den Schriftzug eines Colleges in Kansas, Rüdigers Shirt.
Wenn wir bei ihren Eltern zu Besuch waren, kam das Gespräch bisweilen von einem Moment auf den anderen auf Rüdiger. Eine Frage nach der Abendessenplanung – und wir waren bei seiner Lieblingsspeise, Reisauflauf. Eine Begegnung mit einem Hund – und wir waren beim Cockerspaniel Olli, der zur Familie kam, nachdem er Rüdiger beim Züchter die Schnürsenkel aufgezogen hatte.
Und eines Tages, beim Umräumen, fiel mir ein Artikel über die Trauer von Menschen in die Hände, die Bruder oder Schwester verloren haben. Jutta hatte ihn für ein Magazin geschrieben. „Wie viele Jahre seid ihr auseinander, du und deine Schwester?“, fragt sie, die Reporterin, einen jungen Mann, dessen kleine Schwester gestorben ist. Er antwortet: „Drei. Finde ich cool, wie du fragst. Du sagst ‚seid ihr auseinander‘ und nicht ‚wart‘.“ Oder später im Text, da sagt er: „Die Leute kucken dich bemitleidend an. Oft fragen sie gar nicht nach, wollen nicht wissen, was genau passiert ist. Oder sie sagen: ‚Oh, tut mir leid!‘ Und schauen betreten zur Seite.“
Juttas Artikel handelt auch von ihr. Und ich gehörte zu diesen Leuten.
So legte sich Rüdigers Existenz wie ein aufspringendes Pop-up-Fenster immer wieder über die Oberfläche meiner Welt. Irgendwann begann unsere Tochter, mich nach ihm zu fragen, da war sie drei. Als wir bei einem Spaziergang an einem Friedhof vorbeikamen, sagte sie, in so etwas wohne auch Mamas Bruder. Wir gingen hinein, sie balancierte auf der steinernen Einfassung eines Grabs und wollte wissen, ob die Leute, die hier wohnten, keine Möbel hätten. Warum Rüdiger schon gestorben sei. Warum ich nichts von ihm erzählen könne, ihrem Onkel. Das fragte ich mich auch. So begann meine Suche.
Wenig später sitze ich mit seinem Vater im Arbeitszimmer und schaue mit ihm das dunkelgrüne Fotoalbum an. Wer war Rüdiger?
Triff Volker, sagt Jutta. Triff Eva. Triff Stefan. Ein Dutzend Leute nennt sie mir, als ich ihr von meinem Vorhaben berichte, mehr über ihren Bruder zu erfahren; und sie sagt, es wäre doch schön, seine Geschichte dann auch aufzuschreiben.
Ich: „Warum willst du das? Willst du wissen, ob ich Sinn darin entdecke?“
Sie: „Nein, es liegt kein verdammter Sinn in alldem. Ich würde einfach nur gerne wissen, ob er für seine Freunde auch noch da ist.“
Der Freund, der immer da war
Rüdigers Elternhaus steht am Ende einer kleinen Straße. Wie alle Straßen im Viertel heißt auch diese nach einem Komponisten. Rüdigers Welt als Kind reicht von Carl Orff bis Joseph Haydn.
Im weiß-blau karierten Album gibt es Fotos, auf denen man ihn auf Stelzen durch den Wendehammer laufen sieht. Auf Rollschuhen stehen. Fahrrad fahren. Beim Urlaub in Valras-Plage, Südfrankreich, mit seinem Vater auf einem Tennisplatz. Und da ist auch das erste Foto von ihm und Stefan: Beim Landskronbergfest in Oppenheim machen sie ein Wettrennen.
Manche Freunde sind Freunde für Lebensabschnitte; in der Schulzeit, in Sportteams, bei der Bundeswehr. Stefan, ein Cousin dritten Grades, war immer da. Nun sitzen wir in Rüdigers Zimmer. Als die Tür zu ist, sagt Stefan: „Ich war lange nicht mehr hier drin. Ich hatte einen Wahnsinnskloß im Hals, als ich ankam.“
Ich: „Woran denkst du, wenn du an Rüdiger denkst?“
Stefan: „An Partys am Eicher See. Da war ein Häuschen, Boot vor der Hütte, das war unser Meetingpoint. Einige von uns hatten Mopeds. Rüdiger nicht, der fuhr dann später, mit achtzehn, im alten Kadett seiner Mutter herum, den er Zahnbelag nannte, der Farbe wegen.“
„Was habt ihr am See gemacht?“„Gechillt. Das war völlig unbeschwert. Vier, fünf Jungs, für die es außer Schule und Sport nichts gab, na ja, höchstens noch Mädels. Aber Sport war das verbindende Element.“
„Wer war Rüdiger?“„Ein Sonnyboy. Er war total durch den Sport geprägt, der hat ihn straight durch die ganze Jugend gebracht. Das hat ihm ein großes Selbstvertrauen gegeben. Andere wurden Punks, ich machte Leichtathletik, Rüdiger spielte Tennis. Der wusste genau, was er konnte und wie er seinen Ärger loswurde, wenn er welchen hatte. Wir haben auch erst sehr spät mal Alkohol getrunken.“
„War er brav?“„Überhaupt nicht. Wir waren ziemlich losgelöst von irgendwelchen Trends. Ich hatte Holzclogs und Schlaghosen, Mode war mir total egal. Rüdiger war genauso. Er hängte seine Fahne nicht in den Wind. Er war bei jedem Mist dabei. Mit sechzehn fuhr er ein BMW Coupé über die Autobahn.“
„Politik?“„Null.“„Kirche?“„Haben wir nie drüber gesprochen. Die Atmosphäre gefiel ihm vielleicht.“
„Was glaubst du – hätte Rüdiger Tenniskarriere gemacht?“„Er wollte schon ein Großer werden, deswegen wollte er ja auch unbedingt nach Kaiserslautern aufs Tennisinternat. Er wurde nicht gedrängt, er wollte das. Das Tennisinternat war die Adresse. Aber er hatte einen Punkt, so mit achtzehn, neunzehn, an dem er dachte: Es gibt noch mehr als Tennis.“
Ein kurzes Interview mit Rüdiger in der ZDF-Sportsendung „Pfiff“ im Oktober 1980:
ZDF: „Möchtest du Tennisprofi werden?“
Rüdiger, 14: „Wenn ’s geht, Bundesliga. Aber erst mal vielleicht so was wie mein Vater.“
ZDF: „Der ist Weinbau-Ingenieur, nicht?“
Rüdiger: „Ja, so.“
ZDF: „Und dann nach Wimbledon?“
Rüdiger zuckt mit den Schultern.
Die Internatsbetreuerin
Das Heinrich-Heine-Gymnasium liegt am Fuß des Betzenbergs. Seit 1978 werden dort junge Leistungssportler gefördert. Rüdiger war unter den Ersten, die das Sportinternat besuchten.
Marion Noll kam schon während seiner Schulzeit als Erzieherin ans Internat. Sie ist noch immer da. Eine freundliche, bestimmte Frau, die weiß, wie man mit Fünfzehnjährigen spricht.
Ablauf am Internat: 6.45 Uhr Wecken. 8 Uhr Schulbeginn. Zehn Wochenstunden Sport plus nachmittägliches Konditionstraining. Ab 17.30 Uhr Abendessen. Abendprogramm: Tischtennisplatte im Keller-, Fernsehraum im Erdgeschoss, Ausgang für die älteren Schüler bis 22 Uhr.
Die papiernen Karteikarten der ehemaligen Schüler stecken in Kartons im Erzieherraum neben dem Eingang. Frau Nolls Kollege sucht unter H nach Rüdigers Karte.
Oben rechts auf der Karte steht das Datum, an dem sie angelegt wurde: 23. August 1978. Das Foto zeigt einen Zwölfjährigen, die Haare raspelkurz geschoren, der stolz in die Kamera schaut; ein angehender Teenager, der sich lieber selber eine reinhauen würde, als einem Fotografen einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren. Unter der vierstelligen Telefonnummer, die hinter der fünfstelligen Vorwahl auf der Karte notiert ist, sind die Eltern noch heute erreichbar.
Rüdigers Mutter: „Wenn es etwas Schulisches zu besprechen gab, hat er mich angerufen. Wenn es um Sport ging, seinen Vater.“
Ich: „Wie fandest du es, dass Rüdiger aufs Internat ging?“
Die Mutter: „Der schönste Moment der Woche war Freitag, 14 Uhr, wenn er nach Hause kam. Der schlimmste war sonntags, wenn ich ihm seine Tasche gepackt habe. Aber was sollte ich machen? Es war sein größter Wunsch, dort konnte er schon morgens Tennis spielen.“
Jutta ist sechs Jahre alt, als ihr Bruder ins Internat geht. „Für sie war er Superman“, sagt Rüdigers Freund Stefan. „Der große coole Bruder, zu dem sie aufschaute.“
Viele Anekdoten, die sich aus dieser Zeit um Rüdiger ranken, handeln von Spielen, die er sich ausdenkt. Zum Beispiel tut Rüdiger so, als ob er sich mit eiskaltem Wasser waschen würde. Das sei äußerst gesund, sagt er, bibbernd. Die kleine Schwester macht es ihm nach. Bis sie nach Wochen merkt, dass er selbst den Warmwasserhahn benutzt.
Jutta vermisst ihn so sehr, dass die Familie einen Cockerspaniel anschafft.
Das Zimmer, das Rüdiger im Internat mit drei anderen bewohnte, hat heute die Nummer 303. Im Treppenhaus hängen Fotos und Trikots; von Tischtennis-Weltmeister Steffen Fetzner, von Fußballprofi Axel Roos, von Tennis-Davis-Cup-Sieger Patrik Kühnen. Alle waren zeitgleich mit Rüdiger hier.
Marion Noll, die Schülerbetreuerin, geht vor ins zweite Obergeschoss und klopft an der 303.
Ein Schüler öffnet. Duschgelgeruch, Badelatschen, FC-Bayern-Bettwäsche. Es läuft eine Sportsendung auf dem Computer. Große Fenster. Vis-à-vis sieht man ein anderes Internatsgebäude.
„Nachts stiegen die Schüler aus dem Fenster und kletterten ins Mädchenhaus“, sagt Noll. „Zur Strafe mussten sie dann ums Haus herum sauber machen. Aber es gibt bis heute intakte Ehen.“
„Wen hat Rüdiger nachts besucht?“
„Sagen wir so: Erwischt habe ich ihn nie.“
Gespräch mit Jutta
„Ich wollte eigentlich nicht in Berlin bleiben“, sagt sie. „Ich musste damals nur mal raus. Ich war nach Rüdigers Tod das einzige Kind meiner Eltern. Das hat uns zusammengeschweißt, aber es hat mich auch überfordert. Ich musste mal Abstand gewinnen.“
Nun, sagt sie, sehne sie sich nach Familienwochenenden auf dem Tennisplatz, nach autofreien Straßen, nach dem Weinberg hinter dem Haus. Und sie wolle, dass die Kinder näher bei Oma und Opa sind.
Oder sie will die Fäden wieder aufnehmen.
„Lass uns darüber nachdenken“, sage ich.
Einige von Rüdigers Schulkameraden verlassen die Schule nach der mittleren Reife mit dem Ziel, Profi zu werden. Er beschließt, das Abitur zu machen. Die einen sagen heute, er habe den Rückstand später wieder aufholen wollen. Die anderen sagen, er habe sich gegen das Tennis entschieden.
Sicher ist: Sobald er die Schule beendet hat, denkt Rüdiger wieder an nichts anderes. Nach dem Abitur richtet er alle seine Entscheidungen danach aus, ob sie mit Tennis vereinbar sind.
Er geht zum Beispiel nur deshalb zur Bundeswehr, weil er die Zusage hat, in eine Sportfördergruppe zu kommen. Erst kurz vor der Grundausbildung erfährt er, dass es nicht klappt, doch da gibt es keinen Weg mehr in den Zivildienst. Er hockt mehr als ein Jahr lang in olivfarbenen Klamotten in einem Büro herum und muss sich von einem mittelhohen Dienstgrad anpflaumen lassen. „Fünfzehn Monate komplett fürn Arsch“, sagt ein Freund, den er in der Kaserne kennenlernt. „Einmal“, sagt die Mutter, „kam er nach Hause, hat seine Tasche stinksauer in die Ecke geschmissen und die Musik aufgedreht. Irgendwann hat er dann erzählt, er musste die Kaserne putzen, weil er Tennissocken in seinen Stiefeln trug.“
Er geht anschließend an ein College in den USA, allerdings weniger wegen des Studiums, sondern weil er dort in die Tennismannschaft eingeladen ist.
Und danach studiert er VWL in Mainz, wo er weiter in seinem Verein trainieren kann.
Tennis, Tennis, Tennis.
Der Tennisfreund
„Tja“, sagt Volker, „was bedeutete ihm Tennis?“
Wir sitzen auf einem Mainzer Vereinsgelände und schauen anderen beim Spielen zu. Volker hat mit Rüdiger gespielt. Heute ist er Trainer und schreibt Bücher über Tennistaktik. Mit einem Taschentuch tupft er sich immer wieder Tränenflüssigkeit aus dem Augenwinkel. Verstopfte Drüse, sagt er, laufe unentwegt, seltsame Geschichte.
„Tennis war unsere Zeitrechnung“, sagt Volker. „Es gab die Tennissaison und die restliche Zeit. In der restlichen Zeit gingen wir Ski fahren, da hat er seine Preisgelder rausgehauen.“
„Was für ein Spieler war Rüdiger?“
„Ein klassischer Serve-and-Volley-Spieler, aggressiv, mit gutem Aufschlag, der die Punkte gemacht hat und nicht von der Linie aus einen Abnutzungskampf führen wollte.“
„Ist Rüdiger für dich noch da?“
„Klar ist er noch da. Aber ich erinnere mich fast nur an schöne Sachen. Blech reden, Scheiß machen.“
Die erste konkrete Erinnerung, von der Volker erzählt, ist diese: „Wir sind zu fünft Ski fahren gewesen, und im Auto haben wir die ganze Zeit die Band Marillion gesungen. Das heißt: Vor allem Rüdiger hat gesungen. ‚Fugazi‘, ‚Misplaced childhood‘, ‚Assassing‘. Der konnte das alles auswendig.“
I am the assassin, with tongue forged from eloquence
I am the assassin, providing your nemesis
On the sacrificial altar to success, my friend
Unleash a stranger from a kiss, my friend
„Total abstruse Texte“, sagt Volker.
„Was heißt Blech reden?“, frage ich.
„Ach, Blech reden halt. Rüdiger war der bessere Tennisspieler, aber ich war der bessere Skifahrer. Wenn ich ihn zur Tiefschneefahrt aufgefordert habe, hat er gesagt: Okay, aber welcher ist jetzt gleich noch mal der Berg- und welcher der Talski? Das ist Blech reden.“
Dann wartet Volker auf meine Fragen, und ich warte, bis er von alleine weitererzählt. Er gewinnt.
„An was hast du dich als Erstes erinnert, als ich dich angerufen und um dieses Gespräch gebeten habe?“
„Es war extrem schönes Wetter bei der Beerdigung“, sagt Volker. „Ich erinnere mich, dass ich mit dem Cabrio hingefahren bin. Es muss Frühjahr gewesen sein, die Tennissaison lief schon.“
Nach diesem Gespräch verbringe ich Stunden mit Rüdigers Vinylsammlung. „Wir haben nicht alles aufgehoben“, sagt Jutta. „Wir wollten kein Museum einrichten.“ Aber die Platten wurden nie angerührt. Rock, Hardrock, Progrock, Neo-Progrock – alles da. Die frühen Genesis, Saga, Deep Purple, Pink Floyd, Van Halen, AC/DC, Black Sabbath. Neun Platten von Marillion:
„Script For A Jester’s Tear“ (1983)
„Garden Party“ (Single, 1983)
„He Knows You Know“ (Single, 1983)
„Real To Reel“ (1984)
„Fugazi“ (1984)
„Kayleigh“ (Single, 1985)
„Brief Encounter“ (1986)
„Clutching at Straws“ (1987)
„B’Sides Themselves“ (1988)
Viele Stunden lang höre ich Marillion. Auf Synthesizern surfend, fahre ich U-Bahn; zu kreuz und quer gehenden Taktarten versuche ich zu joggen; Texte, denen die Erfahrung des Nordirland-Konflikts eingeschrieben ist, und Songs, die Fragezeichen im Titel tragen – „Childhood’s End?“ –, verlängern Nächte bis in die Morgenstunden.
Dazu höre ich Geschichten. Rüdiger, sagt seine Mutter, habe nicht viel geredet, wenn ihn etwas belastet habe. Er sei ins Untergeschoss gegangen und habe die Musik hochgefahren. Rüdiger, sagt Jutta, habe auf dem Tennisschläger Gitarre gespielt. Rüdiger, sagt Stefan, habe aus dem Internat so Avantgardezeug eingeschleppt, die Wipers und so was.
Dann nehme ich mir Black Sabbath vor. Dann IQ. Dann Fischer-Z, die Band, deren Namen Rüdiger mit schwarzem Filzstift auf ein Schränkchen geschrieben hat.
Ich höre seinen alten Kram auch im Urlaub in Südfrankreich, wo Jutta, „wenn wir schon mal da sind“, Orte ihrer Kindheit aufsucht. In Valras-Plage stehen noch dieselben Häuser, da liegt noch der gleiche Sand, da gibt es noch das gleiche Meer wie damals, als sie hier mit Rüdiger Burgen baute. Aber sie bewegt sich wie durch ein Museum. Sie sieht nur Kulissen eines Stücks, das von der Vergangenheit handelt; eines Stücks, dessen Soundtrack ich im Ohr habe, ohne ihn wirklich zu verstehen.
Bis plötzlich eine Frage im Raum steht: Kann es sein, dass das, was wir suchen, nicht mehr existiert? Dass die Bedeutung von Dingen, Orten oder Songs nicht in ihnen selbst, sondern nur in den Erinnerungen an sie steckt – in Erinnerungen, die ich an Rüdiger nie hatte und die bei denen, die ihn kannten, langsam zu verblassen drohen wie alte Fotos?
There is no childhood’s end
’Cause you are my childhood friend
’Cause you are my childhood friend
Oh, lead me on
So heißt es im Fragezeichen-Song von Marillion. Die Kindheit endet nie. Aber wenn doch?
Die Sportlehrerin
Seine 17-seitige Facharbeit im Leistungskurs Sport schreibt Rüdiger vor dem Abitur zum Thema „Psychoregulative Methoden im Tennis“. Eine Kernaussage lautet: Selbstbeschimpfungen auf dem Platz führen zu nichts, freundliche Hinweise an sich selbst dagegen schon. „Aus einem bissigen Befehl wie: ‚Geh runter in die Knie‘, wird eine klare, vorwurfslose Feststellung: ‚Ich beuge jetzt die Beine.‘“
Frau Brun hat die Arbeit korrigiert. Rüdigers Lieblingslehrerin, sagt Jutta. Frau Brun lebt heute mit ihrem französischen Mann im Languedoc-Roussillon. Als wir im Frankreich-Urlaub zu ihnen fahren, die Kinder im Schlepptau, werden wir bekocht wie alte Freunde.
„Rüdiger war ein sehr gut aussehender, sympathischer junger Mann“, sagt Frau Brun. „Aber einer, der nicht alles mitmachte. Einmal haben wir in der Klasse eine Faschingsparty gemacht, mit Polonaise und allem. Rüdiger fand das überhaupt nicht lustig. Er sagte: ‚Das ist mir zu blöd.‘ – Ich: ‚Dann geh zum Direktor und sage ihm, dass du an meinem Unterricht nicht teilnehmen willst.‘ Und das tat er dann.“
Rüdiger sei begabt gewesen, aber auch ein wenig bequem oder nicht ehrgeizig genug, sagt Frau Brun weiter, einer, der überall ganz gut durchkam, den man aber oft antreiben musste.
Tatsächlich liest sich seine Facharbeit mit zunehmender Seitenzahl immer mehr, als sei sie nebenbei geschrieben worden. Was vermutlich daran liegt, dass es so gewesen ist. Im Skiurlaub mit der Familie schrubbt er zwischendurch irgendwas aufs Papier.
Im Nachhinein liest sich die Arbeit aber auch wie eine Anleitung für das, was dreieinhalb Jahre nach der Abgabe kommen würde. Als Rüdiger krank wird, motiviert er sich, als würde er in ein Spiel gehen. Er spricht davon, sein wichtigstes Match zu spielen, so sagt es seine Mutter. Sein Freund Stefan sagt: „Er hat nie geweint, ist nie zusammengebrochen, er hat sich nie ergeben. Er sagte: Heute ist Donnerstag, morgen ist Freitag.“
Als die Lehrerin, Frau Brun, Rüdiger einmal zu Hause besucht, nachdem sie von seiner Krebsdiagnose gehört hat, schenkt sie ihm das Bild einer kleinen Schnecke, die einen Berg hinaufkriecht. „Das bist du, habe ich ihm gesagt. Mach weiter, werd gesund, du packst das.“
Das Schneckenbild steht noch auf einem Fensterbrett im Elternhaus. Und Rüdiger sagt sich damals: Ich krieche jetzt da hoch. Eine klare, vorwurfslose Feststellung wie: „Ich beuge jetzt die Beine.“
Wahnsinnig positiv eingestellt sei er gewesen, sagt seine Tante. Einmal rast er auf Krücken über den Krankenhausflur. Er macht ein Wettrennen gegen einen Beinamputierten.
„Wie ging es aus?“
Die Tante: „Och, das weiß ich nicht mehr. Aber sie haben die ganze Zeit rumgealbert.“
Das ist im Frühjahr 1988.
Der Coach
Anfang 1987 ist Rüdiger noch gesund. Er fliegt nach Kansas, um am College Tennis zu spielen. An der Wichita State University steht er als „Freshman“, als Neuling, im Jahrbuch. Handschriftlich füllt er mit Datum vom 14. Januar den Fragebogen aus.
Height 6,1 ft
Weight 180
Hobbies: Skiing, surfing, music
Favorite TV show: „Sportschau“
Favorite Movie: „Life of Brian“
Favorite Athlete: John McEnroe
Rüdiger startet als Nummer 6 der Mannschaft. Auf 1 spielt ein Neuseeländer, dann kommen ein Schwede, ein Amerikaner, ein Südafrikaner und Andreas, ein Freund aus Internatszeiten. An denen muss er vorbei. Doch Tennis wird für ihn am College dominiert vom Kleingedruckten. TOEFL-Sprachtest, SAT-Wissenschaftstest. Solange er nicht besteht, darf er nicht spielen. Beim ersten Mal fällt er durch.
Sein Coach, Rex Coad, sagt, Rüdiger habe sich womöglich vorher nicht klargemacht, dass er als College-Tennisspieler nebenbei auch aufs College gehen müsse. Pretty hard for him. Er habe sich nicht so auf das Spiel konzentrieren können wie die anderen Guys im Team. „Es gab einige sehr starke Spieler im Team, und Rüdiger hat den Konkurrenzkampf angenommen. Das ist ein Kompliment!“, sagt Mr. Coad. „Aber um ganz ehrlich zu sein, er hat hier wohl nie sein bestes Tennis gespielt, was aber nicht nur sein Fehler war. Erwartungen und die Wirklichkeit passen nicht immer zusammen.“
Im Februar, neun Monate bevor er zum letzten Mal ein Turnier spielt, schickt er einen Brief nach Hause, adressiert an seine Schwester.
„Bei mir gibt’s nicht viel zu erzählen“, schreibt er. „Mit dem Tennis habe ich nach wie vor einige Probleme, weil zum einen die Wichita-Bälle leichter sind als unsere zu Hause, und zum anderen mag ich den Donnay-Schläger nicht besonders, da er für mein Spiel einfach zu weich ist. Gott sei Dank ist es möglich, das Racket zu wechseln, und ich werde hoffentlich schon nächste Woche wieder mit meinem alten Head spielen können, um dann das Feld von hinten aufzurollen, denn ich bin der Ansicht, dass ich in Normalform an 1 oder 2 spielen könnte.“
Am 3. März verliert er im Doppel mit Andreas gegen Kennedy/O’Donovan von der Texas A&M University 6:4, 6:3. Den Aufzeichnungen des Colleges zufolge ist es Rüdigers einziges Spiel, das je in die Mannschaftswertung eingeht.
Er könne nicht sagen, ob Rüdiger klar gewesen sei, was Kansas für eine Gegend ist, sagt Rex Coad. Bei vielen Spielern aus Übersee sei es bis heute so, dass sie damit rechnen, hin und wieder am Strand herumzuhängen. Aber es seien dreizehn Stunden bis zum Meer. No internet 1987, no skype. Know what I mean.
„Jemand sagte mir, Rüdiger sei ein Sonnyboy gewesen“, sage ich.
„Das glaube ich gerne“, sagt Mr. Coad. „Aber ich würde nicht ausschließen, dass er hier in Kansas eine schwarze Wolke über sich hatte.“
Der Mitbewohner
Für seine Eltern ist Rüdigers Zeit in den USA eine Blackbox. An einer Pinnwand in ihrem Haus hängt ein Ausriss aus einer College-Studentenzeitung: ein Foto von Rüdiger in schultergepolsterter Jeansjacke, überschrieben mit „Partyer of the week“. Viel mehr über die Monate wissen sie nicht. Als ich in den Weiten des Saarlands Andreas treffe, der mit Rüdiger in Kansas spielte, fährt mich Rüdigers Vater hin.
„Was ist das für ein Foto?“, frage ich Andreas.
„Also, Party haben wir nicht gemacht“, sagt er. „Wir waren viel unterwegs, auch sogar mal beim Spring Break, aber wir waren super diszipliniert. Da hätten 100.000 Leute kommen und sagen können, wir müssen trinken, das hätten wir nicht gemacht, höchstens mal ein Light Beer.“
Es sei ihm allerdings aufgefallen, dass Rüdiger sehr moderat gespielt habe. „Ich habe mich schon gefragt, ob etwas nicht in Ordnung ist.“
Nach wenigen Monaten in den USA zieht sich Rüdiger eine hartnäckige Lebensmittelvergiftung zu. Andreas hat den Kühlschrank im Studentenwohnheim in Wichita im Verdacht, da habe jeder sein Zeug reingepfeffert. „Ein paar Wochen lief er dann dort von Pontius zu Pilatus, aber es wurde nicht besser“, sagt er. „Und dann ist er nach Hause geflogen.“
Der Kühlschrank? Heimweh? Enttäuschung? Eine Mitteilung des Körpers?
Als Rüdigers Vater und ich aufbrechen, sagt Andreas, er habe Rüdiger nach der Zeit in Kansas kaum noch gesehen, sie hätten im Sommer 1987 noch telefoniert, doch die Krankheit habe er, Andreas, dann einfach verdrängt. „Aber es tut wahnsinnig gut, sich zu erinnern.“ Es sei, als würde nach all den Jahren eine Lücke geschlossen.
Für mich ist interessanterweise das Gegenteil der Fall. Mit jedem Gespräch, das ich führe, wird die Lücke größer. Meine Recherchen über Rüdiger dehnen sich in ein Zweikammersystem aus: Die eine Kammer, die der Erinnerungen, in der ich die Details sammle, wird voller. Aber die andere wächst mit: die Kammer des Vergessens, in der sich die offenen Fragen stapeln und darauf hinweisen, dass ein junger Mensch von wolkiger Kontur ist; letztlich nicht greifbar in seinen Motiven, weil er sie selbst noch nicht kennt. Eine Sammlung loser Fäden.
Ich kann Teile von Rüdigers Lebensgeschichte rekonstruieren, Orte besuchen, an denen sie spielt, und seine Musik hören, so wie man ein Archiv besucht. Aber je mehr ich mich auf ihn zubewege, desto genauer sehe ich, was ich nie erfahren werde; desto größer erscheint mir die Entfernung. Wenn ich vor Rüdigers Platten sitze und ihn darin zu entdecken versuche, wenn ich einen von ihm mit Eselsohren versehenen Agententhriller lese, der im Kalten Krieg spielt, wenn ich sich verfärbende Fotos betrachte, die ihn in Pullundern zeigen, frage ich mich: Sehe ich ihn? Oder sehe ich nur seine Zeit?
In einer Straußwirtschaft in Juttas Heimatdorf, Weißweinschorle vor uns, gehen sie und ich die Wohnsituation durch. Wir haben alle Wohnungen besichtigt, die im Dorf auf dem Markt sind. Eine Doppelhaushälfte an der Umgehungsstraße. Eine zu kleine Altbauwohnung. Ein kleines Haus mit dem Flair eines Fliesenlagers.
„Willst du wirklich hierher ziehen?“, fragt sie.
Ich würde gerne Ja sagen. Aber ich vermisse schon beim Gedanken daran die Großstadt, diese Sammlung loser Fäden. Alles im Dorf atmet Erinnerungen, die nicht die meinen sind. Da: die Treppen, die Jutta hinuntergefallen ist. Dort: die Tennisplätze, die Rüdigers Wohnzimmer gewesen sind. Die Apotheke, der Spielwarenladen, das Schuhgeschäft, die Grundschule. Überall werde ich freundlich empfangen als „Mann von“, als „Schwiegersohn von“.
„Ich bin gerne hier, aber ich weiß nicht, ob ich hierher gehöre“, sage ich. „Es ist deine Geschichte. Ich schaffe es nicht einmal, Rüdigers Geschichte zu der meines Schwagers zu machen. Ich kenne nur Bruchstücke. Es bleibt die Geschichte des Bruders meiner Frau.“
Sie nickt. „Ich habe auch so vieles vergessen. Aber es gibt Momente, in denen mich irgendetwas an ihn erinnert, und dann ist er, wie aus dem Nichts, völlig präsent. Solche Momente kannst du ja nicht haben.“
Ich denke, das ist der Satz, nach dem es bei mir Klick macht. Und wenn ich solche Momente doch habe?
Was hat Rüdigers Sportlehrerin erzählt? „Am Tag vor unserer Hochzeit hat mich Rüdigers Vater angerufen und mir gesagt, dass er gestorben ist. Unsere Hochzeitskarte stand wohl auf Rüdigers Nachttisch. Er würde versuchen zu kommen, hatte er gesagt.“ Und so vergehe kein Hochzeitstag, an dem sie nicht auch an ihn denke, ihren Schüler.
Was hat Rüdigers Vater gesagt, als er mich einmal mit auf den Golfplatz nahm, um mir zu zeigen, wie man abschlägt? „Ich habe Rüdigers Schläger immer dabei.“ Es vergeht keine Golfrunde, während der er nicht an ihn denkt.
Und ich, habe ich nicht kürzlich, als ich den Sänger von Black Sabbath im Fernsehen sah, eine Ahnung von Rüdiger vor Augen gehabt, als Teenager, der auf seinem Tennisschläger ein Gitarrenriff performt?
Oder wenn sich eines meiner Kinder hinter mir versteckt, wenn es an der Tür klingelt: Denke ich dann nicht, es sei wie Rüdiger?
Sind das keine Momente?
Die Freundin
Eva, Rüdigers Freundin, zeigt mir eine Vase, gestaltet wie eine Papiertüte. „Ich hüte sie wie meinen Augapfel“, sagt sie. „Er gab sie mir an Weihnachten 1988.“
Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer. Unter der Decke hängt ein Heliumballon ihres Sohnes. Ich sitze mit Block und Stift auf der Couch. Sie, auf einem Sessel, hält sich an einer Klarsichtmappe fest. Darin, sagt sie, seien Briefe, die Rüdiger ihr geschrieben habe, sie habe sie am Abend vor unserem Treffen alle noch einmal gelesen. Auf einen Umschlag ist ein Herz gemalt.
Eva sagt, als sie sich im August 1987 kennenlernten, habe sie in der Vereinskneipe auf dem Tennisgelände gekellnert. „Ich wollte keinen Freund, das habe ich ihm auch gesagt. Ich wollte gerade für ein Semester nach Spanien gehen. Zwei Wochen später, an meinem Geburtstag, rief er mich in Madrid an.“
Sie zeigt mir Fotos von einem gemeinsamen Kurztrip nach Ibiza. Die Briefe könne sie mir nicht geben, sagt sie, es tue ihr leid, sie seien ihr heilig. Aber sie holt einige aus der Mappe und liest vor.
„Nachdem meine Mutter mir das Briefpapier gekauft hat, habe ich natürlich nichts anderes zu tun, als Dir sofort zu schreiben.“
„Ich vermisse Dich.“
„Ich musste neulich vor Schmerzen ein Spiel abbrechen.“
„Noch 69 Tage, bis wir uns wiedersehen.“
„Jetzt müssen die doch mal was finden.“
„Was bedeutet Rüdiger für dich?“, frage ich.
Eva: „Ich wäre eine andere ohne seine Geschichte. Ich habe Erfahrungen gemacht, die einen Menschen sehr prägen. Die Zeit mit zwanzig, die so unbelastet ist: Du wirst unabhängig, und dann das. Das schärft den Blick. Ich war vorher sicher ein oberflächlicherer Mensch, als ich es heute bin. Ich bin keine verwöhnte Prinzessin. Ich verliere mich nicht so im Kleingedruckten.“
Im Sommer 1987 beginnt Rüdiger unter Rückenschmerzen zu leiden. Vermutlich verrenkt, denkt er. Er reibt sich mit Pferdesalbe ein, die immer hilft. Diesmal nicht. Zwischen Leiste und unterem Rippenbogen scheint, linker Hand, etwas Muskuläres im Gang zu sein. Finalgon-Creme. Er geht zum Orthopäden. Nichts. Einmal muss er ein Spiel abbrechen. Das ist, drei Monate bevor er sein letztes Tennisturnier spielt: Im November wird Rüdiger Zweiter beim Ranglistenturnier in Rheinland-Pfalz, das Finale läuft saublöd.
Er studiert jetzt in Mainz. Er genieße die Freiheit, sagt sein Freund Stefan.
Aber es gibt Tage, an denen er sich kaum rühren kann. Pferdesalbe, Finalgon-Creme, Arztbesuche, andere Orthopäden. Jetzt müssen die doch mal …
Im Januar 1988 unterzieht er sich in Kaiserslautern einer Computertomografie. Kurz darauf in der Nähe von Köln einer Biopsie. Eva verlängert ihre Weihnachtsferien, die sie in Deutschland verbringt, und begleitet ihn dorthin, bevor sie zurück nach Madrid fliegt. Über die Ergebnisse, sagt sie, habe ihr Vater sie dann am Telefon informiert. Sie teilt Rüdiger mit: „Ich komme heim.“
Die Diagnose lautet Ewing-Sarkom. Ein seltener Knochenkrebs, den nur Heranwachsende bekommen. Am besten sei er heilbar, wenn die betroffenen Stellen amputiert werden, sagen die Ärzte. Rüdigers Tumor sitzt im Beckenknochen. Prognose: fifty-fifty.
In diesem Jahr spielt das deutsche Davis-Cup-Team die perfekte Saison. Nach einem Sieg im Februar gegen Brasilien schlägt es im April Dänemark und im Juli Jugoslawien. Patrik Kühnen, mit dem Rüdiger in der Schulzeit konkurrieren konnte, gehört zum Team. Rüdiger sieht zu Hause die Fernsehserie „Alf“. „Kühnens Karrieresprung hat ihm sicher wehgetan“, sagt Stefan. „Rüdiger wusste ja, dass es auch für ihn mal eine Chance gegeben hätte. Und jetzt lag er auf seiner Scheißcouch herum.“
Rüdiger bekommt in dieser Zeit eine Chemotherapie. Er liegt währenddessen alle zwei Wochen von Donnerstag bis Montag auf der Kinderkrebsstation 7a der Onkologie in Mainz. Bunte Farben und Spielzeug und ein 21-Jähriger, der gerade angefangen hat, kein Teenager mehr zu sein.
Die Hoffnung ist, dass sich der Tumor vom gesunden Gewebe abgrenzt. Seine Mutter und seine Tante bringen ihm Essen ins Krankenhaus. Das aus der Klinik schmecke nach Chemie, sagt er. Aber der selbst gemachte Kirschauflauf von zu Hause dann auch.
Wenn er montags heimkommt, wünscht er sich Linsensuppe mit Kartoffelpuffern, isst alles auf, und dann geht er mit Volker oder seinem Vater ein paar Golfbälle schlagen.
Nach der Chemotherapie ist nur noch ein Viertel des Tumors aktiv, die Ärzte sind guter Dinge. Es dürfe sich nur kein aktives Gewebe mit Blut vermischen, dann könne er sich ausbreiten.
Rüdiger trägt nun eine Perücke. Er handhabe sie wie ein T-Shirt, sagt Stefan: „‚Ich will cool aussehen, wie ein Rockstar‘, so hat er geredet.“ Aber manchmal trägt er sie einfach nicht.
Ein Teil vom Beckenkamm wird entfernt. Nach der OP Bestrahlungen, der Rücken ist schwarz davon. Aber Rüdiger kriecht Stück für Stück den Berg hoch. Er geht in die Reha, der Betreiber des Fitnessstudios gibt ihm den Schlüssel, damit er auch nachts reinkann. Einem Freund aus dem Dorf-Tennisverein sagt Rüdiger: „Wenn der Rücken mitmacht, könnte ich ja ein Jahr bei euch spielen.“
Er hört jetzt noch mehr Musik, Queensrÿche, Pretty Maids, Peter Gabriel, Rush, Crimson Glory. Er geht auf Partys. Volkers Geburtstag etwa. Volker sagt, sie hätten über alles geredet, „außer darüber, dass Rüdiger sterben oder mindestens gelähmt sein würde“. Die Jungs meiden das Thema, auch wenn es nicht weggeht.
Nach den Bestrahlungen sagen die Ärzte, es sehe gut aus. Im Spätsommer gilt Rüdiger als so gut wie über den Berg.
Die Zeit bis Jahresende 1988 ist dann wie ausgelöscht in den Erzählungen. Dutzende von Gesprächen, und in keinem fällt auch nur ein Satz über diese Monate, die von Hoffnung geprägt sind. Aber kurz vor Weihnachten, in der Zeit, in der das deutsche Davis-Cup-Team das Finale gegen Schweden gewinnt, fragt Rüdiger: „Warum habe ich dann so viele Schmerzen?“
Im neuen Jahr schreibt die Mutter Rüdigers Termine und Werte in einen Kalender.
5. Januar Computertomografie
Die Eltern sind mit den Hausärzten aus dem Dorf befreundet. Die bitten sie zum Gespräch in die Praxis, als die Ergebnisse vorliegen. Es seien Weichteile betroffen, sagen sie. Aus medizinischer Sicht gebe es keine Hoffnung mehr, Rüdiger habe höchstens noch ein Vierteljahr zu leben.
Die Mutter geht von dort direkt zum Supermarkt und kauft ein. Nur nicht nach Hause habe sie gewollt, sagt sie. Die Eltern beschließen, Jutta nichts zu sagen, noch nicht. Als sie die Tür öffnet, lächelt die Mutter und fragt, wie es in der Schule gewesen sei.
12. Januar Operation am Muskel
23. Januar Rüdiger kommt nach Hause
26. Januar Ganzkörper-CT
Am Abend sieht Rüdiger „Alf“.
2. Februar Ambulante Chemo
„Alf“, Backgammon mit Jutta, Stefan.
15. Februar Bestrahlung in Heidelberg
18. Februar Chemo in Mainz
Backgammon.
Bestr., Bestr., Chemo, Chemo, HB, Mz
Im März bittet er Jutta, ihm das neue Album der Band IQ zu besorgen. Es heißt: „Are you sitting comfortably?“ Auf dem Cover ist ein unbeweglicher Roboter in einem Rollstuhl zu sehen, der an Kabeln hängt, nur in seinem Kopf leuchtet ein Licht. Er sagt: „Das bin ich.“
26. März, Ostersonntag, ein Tag ohne Tramal-Tropfen
27. März 64 Kilogramm
Es gibt nur noch wenige Menschen, die Rüdiger zu sich lässt. Eine Pflegerin kommt zur Lymphdrainage. Eva ist regelmäßig da, aber spürt auch sein Unbehagen. „Jeder Abschied war ein Abschied für immer“, sagt sie. „Er wollte sie schützen“, sagt seine Mutter.
1. April Atemnot
10. April Blutübertr.
Stefan trägt ihn bei seinen Besuchen von der Couch in sein Zimmer. „Es gab nur ein paar Leute, die das machen durften, er hat sich geschämt, er wollte, dass ihn alle stark in Erinnerung behalten. Und ich habe immer versucht, ihm positiven Spirit zu geben. Er wollte, wenn ich da war, abschalten und das Alte wieder zurückhaben“, sagt Stefan. Heute ist Donnerstag, morgen ist Freitag.
2. Mai Punktion zu Hause im Bett
Bei einem von Stefans letzten Besuchen sprechen die beiden über einen Urlaub auf den Malediven.
Bevor Jutta am Montag, 8. Mai, kurz nach 7 Uhr in die Schule aufbricht, schaut sie nach dem Bruder. „Er atmet ganz ruhig.“ Gegen 11 Uhr klopft jemand an die Tür ihres Klassenzimmers, und die Tür ist noch nicht offen, da weiß sie, dass ihr Vater gekommen ist, um sie nach Hause zu holen.
Als Jutta und ich uns 18 Jahre und ein paar Tage später in der Stadt kennenlernen, in der sie, wäre Rüdiger nicht gestorben, wahrscheinlich nie gelandet wäre, fragt sie mich: „Hast du Geschwister?“
Ich sage: „Zwei, und du?“
Und sie: „Ich habe einen Bruder, aber er lebt nicht mehr.“
Seit diesem Moment gehört er zu meiner Geschichte.
Dieser Text ist zuerst im Sportmagazin No. 1 erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten