: Eine Insel mit zwei Leben
Gabriele Kosack war Chefautorin für „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“. Jetzt hat die Tochter von Südseemissionaren ein Jugendbuch geschrieben
AUS KÖLN LUTZ DEBUS
Schwarzer Kaffee in die Tasse, weiße Milch darauf, umrühren. „Wenn das mit zwei Geschichten auch so ginge ...“ Gabriele Kosack sitzt in der winzigen Küche neben ihrem Büro. Der Löffel klingelt in ihrem Becher. Die eigene Biographie und ihr soeben erschienenes Jugendbuch lassen sich ihrer Meinung nach nicht so leicht verrühren. Vielleicht aber nebeneinander erzählen. Und vielleicht lassen sich zarte Fäden von der einen zu der anderen Geschichte spinnen. Gabriele Kosack schmunzelt: „Ein Versuch ist es wert.“
Geboren wurde Gabriele Kosack 1959 auf einer „Minifuzziinsel“, eine der unzähligen Archipele Indonesiens. Die Eltern waren beide Missionare. Damals gab es keinen Strom dort, kein fließendes Wasser. Alle zwei Monate kam das Postschiff. Zu den etwa 100.000 Einwohnern der Insel hatte das kleine Mädchen keinen Kontakt. Es blieb zu Hause, spielte nur mit den Geschwistern. Die Sprache, die im Dorf gesprochen wurde, Niassisch, verstand sie nicht. Bis zur nächsten Stadt war es eine Tagesreise mit dem Jeep, etwa 20 Kilometer. Die Mutter war zugleich ihre Kindergärtnerin, später ihre Lehrerin.
In jener Zeit war es üblich, dass Missionarskinder keinen Umgang mit Kindern der Einheimischen hatten. Zehn Jahre lebte die Familie dort. Gerne wären die Eltern geblieben. Wegen der Kinder gingen sie zurück nach Deutschland – sie sollten durch den Beruf der Eltern nicht in ihrem eigenen Werdegang gehindert werden. Für die kleine Gabriele aber war dies ein Schock. Schon als Fünfjährige fragte sie bei einem Besuch in Deutschland ihre Großmutter, warum denn hier alle Bäume kaputt seien. Es war Winter und das Mädchen kannte nur die Tropen.
Aber diesmal war es kein Besuch. Gabriele Kosack sollte für immer in ihrer alten neuen Heimat bleiben. In der Schule fiel sie auf. Sie redete zu laut, bewegte dabei ihre Arme, ihre Beine. Während die anderen Mädchen Gummitwist spielten, Glanzbildchen tauschten, saß Gabriele auf einer Treppenstufe und las.
Leonie ist elf Jahre alt, ihre Brüder Paul und Max, zwölf und 14, haben ein fraX-Syndrom, sind behördlich formuliert mehrfach behindert. Paul ist lieb, sabbert zu viel und geht schon mal im Fußballstadion verloren. Max ist tendenziell unfreundlich bis beleidigend, kann auch ausrasten. Dann gibt es noch eine größere Schwester und eine Mutter. Der Vater hat bereits das Feld geräumt, wohnt ein paar Straßen weiter in einer Einraumwohnung. Ein einfacher Schuhkauf wird zur Tortur. Max schubst im Geschäft ein Regal um, weil er nicht die von ihm gewünschten Fußballschuhe bekommt. Verkäuferinnen hacken auf die Mutter ein. Später rastet Max zu Hause völlig aus, geht auf seine Schwester los, schlägt seine Zimmereinrichtung kaputt. „Muss Max jetzt ins Heim?“ fragt die verängstigte Leonie. „Vielleicht ...“ antwortet die Mutter. „Aber Mama, dann wären wir ja gar nicht mehr alle zusammen?“ – „Das sind wir doch sowieso nicht mehr.“
Gabriele Kosack studierte in München Germanistik, Psychologie und Musikwissenschaften. Von 1987 bis 1992 lebte sie in New York. Sie nahm Schauspielunterricht, spielte auf ganz kleinen Bühnen. Off-off-Broadway nennen sich diese freien Theater in Manhattan. Um Geld zu haben, musste sie jobben, manchmal hatte sie drei verschiedene Stellen gleichzeitig. Über Monate lebte sie in den USA ohne gültige Aufenthaltserlaubnis, illegal. Den in den Vereinigten Staaten vorherrschenden Sozialdarwinismus lehnt sie ab. „Aber ich liebe die Menschen dort. Wenn ich mal wieder eine Portion positiver Gedanken brauche, rufe ich Freunde in New York an.“
Wieder in Deutschland, jobbte sie zunächst weiter. In der Berliner Morgenpost entdeckte sie eine Chiffreanzeige: „Autoren gesucht“. Sie bewarb sich, aber es war eher als Experiment gemeint. Erst als sie eine Antwort bekam, wurde ihr klar, für wen sie schreiben sollte: Grundy-Ufa produziert viele der täglichen und wöchentlichen Seifenopern für das Deutsche Fernsehen.
Mit vier bis sieben anderen Autoren saß sie fortan um einen Tisch und schrieb Dialoge für „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Für 115 Sendeminuten pro Woche musste das Drehbuch geschrieben werden. Gut war an den Zeiten bei der UFA das Geld. Und sie lernte das Schreiben als Handwerk. Es war für sie spannend, zu sehen, wie die selbst geschriebenen Sätze zwei Wochen später im Studio, vier Wochen später im Fernsehen zu hören waren. Schlecht an den UFA-Zeiten war die Oberflächlichkeit. „Man liefert nur Stromlinienförmiges, es geht letztlich nur um die Quote.“ Gabriele Kosack schrieb bis 1999 auch für „Unter uns“, für „Verbotene Liebe“ und für „Hinter Gittern“: „Ich war Dialogautorin, Storyliner, Editorin und zum Schluss Chefautorin.“
Plötzlich sind Max und Paul verschwunden. Leonie rennt von Zimmer zu Zimmer. Ihre Brüder sind weg, deren Sachen sind weg, nur noch leere Regale. Die Mutter versucht ihrer Tochter zu erklären, warum die beiden nun in einem Pflegeheim wohnen. Leonie bleiben nachts nur Albträume, tags nur Einsamkeit und die Streitereien mit Schwester und Mutter. Da beschließt sie, Max und Paul aus dem Heim zu befreien und wieder nach Hause zu bringen. Mit dem Bus fährt das Mädchen quer durch die Stadt, schleicht sich in das Heim ein. Verwundert stellt sie aber dann fest, dass Max gar nicht mit nach Hause will. So macht sie sich, nur mit Paul, auf den Heimweg. Doch schon an der Bushaltestelle wird sie entdeckt. Ihre Mutter, ihr Vater, zusammen in einem Auto, haben sie gesucht und gefunden.
Noch immer schreibt Gabriele Kosack Drehbücher, aber nicht mehr für die Daily Soaps. Kleine Serien und Fernsehspiele sind jetzt ihr Metier. Und sie übersetzt Bücher aus dem Englischen. Ein Jugendbuch über die Produktion von Seifenopern hat sie geschrieben. Und plötzlich hat sie die Idee, über ihre beste Freundin eine Geschichte zu schreiben: Die hat zwei Söhne und zwei Töchter. Die Söhne leiden am fraX-Syndrom. Die Ehe der Freundin ist darüber kaputt gegangen. Tatsächlich leben die beiden Jungs, Emmanuel und Elias, inzwischen im Heim.
Trotzdem schreibt Gabriele Kosack nicht einfach ab. Im Buch endet die Geschichte mit einem recht genüsslichen Happy End. Im wahren Leben nicht. Die Eltern von Emmanuel und Elias finden nicht wieder zusammen. Es bricht der Mutter nach wie vor das Herz, wenn sie ihre Söhne nach dem Wochenende wieder ins Heim bringen muss. Als sie das Manuskript las, musste sie lachen und weinen. Es berührte sie, wie sehr ihre Freundin an ihrem Leben Anteil nahm.
Und was ist der Autorin wichtig an ihrem neuen Jugendbuch? Ökonomisch sei es sicher lohnender, putzen zu gehen. Aber für den eigenen Seelenfrieden musste sie auch mal eher anspruchsvolle Literatur schreiben. Und dieser tapferen Familie, die Gabriele Kosack seit Geburt der ersten Tochter begleitet, der wollte sie ein kleines Denkmal setzen. Gern wäre sie als Elfjährige so mutig gewesen wie ihre Romanheldin. Auch die bedingungslose Liebe, mit der Leonie ihr Leben meistert, imponiert der Autorin.
Aber findet sie es richtig, dass die Lösung des Dramas darin besteht, Behinderte in Heime abzuschieben? Der ältere Bruder litt lange Zeit an schweren Depressionen. So behindert ist er nämlich nicht, um zu begreifen, dass ihm viele Dinge, die Gleichaltrigen selbstverständlich sind, für immer verwehrt bleiben. Er wird nie ein Auto oder ein Motorrad fahren, nie heiraten, nie ein unabhängiges Leben führen. Auch litt er, bevor er ins Heim zog, sehr unter der Diskriminierung, an den heimlichen und unheimlichen Nadelstichen seiner Umwelt. „Solange sich die Gesellschaft nicht ändert, ist für solche Menschen eine Insel wichtig.“
Gabriele Kosack wurde in Gunung-Sitoli auf der indonesischen Insel Nias geboren. Nach einem Studium in München und einem Aufenthalt in New York wurde sie Autorin für Fernsehserien. Heute lebt die 45-Jährige als freie Autorin und Übersetzerin in Köln. Das Jugendbuch „Am liebsten alle zusammen“ erschien 2004 bei DTV München; zusammen mit Peter Süß, ihrem Nachfolger als Chefautor bei „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ schrieb sie das Jugendbuch „Daily Soaps“ (dtv, 2000)
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