: Eine Frage von Geld oder Leben
Die Umwelt hält dem stürmischen Wirtschaftswachstum in China nicht mehr Stand. Das hat auch soziale Proteste zur Folge, wie eine kenntnisreiche Studie von Elizabeth Economy zeigt
Chinas Funktionäre sind nicht gerade dafür bekannt, öffentlich die Politik von Partei und Regierung zu kritisieren. Schon gar nicht gegenüber ausländischen Medien. Umso bemerkenswerter ist, wie offenherzig der stellvertretende Umweltminister, Pan Yue, in einem Interview die ökologischen Schattenseiten des Turbowachstums konstatierte: „Dieses Wunder ist bald zu Ende, denn die Umwelt hält nicht mehr mit“ (Spiegel, 7. 3. 2005).
Wie hoch der Preis ist, den nicht nur China für seine rasante Aufholjagd zahlt, ist hinreichend dokumentiert: in einschlägigen Studien der Weltbank, der UNO-Entwicklungsagentur UNDP, aber auch in den jährlichen Weißbüchern der nationalen chinesischen Umweltbehörde SEPA. Für den enormen Leidensdruck, dem sich die Bevölkerung angesichts der akuten Beeinträchtigungen von Gesundheit und Wohlbefinden ausgesetzt sieht, hat der chinesische Volksmund das geflügelte Wort der „drei großen Verschmutzungen“ (von Luft, Wasser und durch Abfälle) geprägt.
Klar ist: Die internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich auch China als weltweit zweitgrößter CO2-Emittent und Mitunterzeichner des Kioto-Abkommens auf konkrete Reduzierungsziele festlegt. Vor diesem Hintergrund hat die amerikanische Politikwissenschaftlerin und Sinologin Elizabeth Economy einen wichtigen Diskussionsbeitrag über die Grenzen des chinesischen Wachstums geleistet. Ihr Buch beruht auf ausgiebigen Feldforschungen und ist angereichert mit einer Vielzahl von anschaulichen Fallbeispielen zu den komplexen ökonomischen, sozialen und politischen Wechselwirkungen der chinesischen Umweltprobleme. Zudem ist es so lebendig geschrieben, dass nicht nur ein Fachpublikum von ihren Einsichten profitiert.
„Die Umwelt wird die Arena sein, in der viele der entscheidenden Schlachten um Chinas Zukunft geschlagen werden“, schreibt die Autorin. Angesichts des Ausmaßes der ökologischen Krise ist das keine Übertreibung. Die messbaren Folgekosten der jährlich verursachten Umweltschäden, einschließlich der Aufwendungen für die medizinische Nachsorge, bewegen sich bei acht bis zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Anders gesagt: Das wirtschaftliche Wachstum zerstört mindestens ebenso viele Werte, wie es schafft.
Ebenso greifbar sind die sozialen Folgen. So trägt der fortschreitende Verlust an landwirtschaftlich nutzbarer Fläche mit dazu bei, dass das Millionenheer von Wanderarbeitern, die in den Städten nach alternativen Erwerbsmöglichkeiten suchen, beständig anschwillt. Gewalttätige lokale Unruhen entzünden sich vielfach an den massiven Beeinträchtigungen durch die hohen Schadstoffbelastungen von Luft und Trinkwasser. Das belegen Dossiers der chinesischen Sicherheitsbehörden, aus denen Elizabeth Economy zitiert.
In scheinbarem Widerspruch zu diesem Befund steht, dass sich Chinas Reformer den Umweltschutz frühzeitig auf die Fahnen geschrieben haben. Im Gefolge der Umweltkonferenz von Rio 1992 hat sich die Regierung in Peking den Grundsatz der „nachhaltigen Entwicklung“ zu Eigen gemacht und eine Umweltgesetzgebung entwickelt, die sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen kann. Dass es dennoch bisher nicht gelungen ist, dem Prozess der Umweltzerstörung wirksam Einhalt zu gebieten, führt Economy im Wesentlichen auf zwei Gründe zurück:
Als Deng Xiaoping zu Reformbeginn die Losung ausgab „reich werden ist rühmlich“, hat das einen befreienden und höchst produktiven Schub an Eigeninitiativen ausgelöst. Gleichzeitig wurde damit jedoch ein Maßstab gesetzt, der den Erfolg wirtschaftlichen Handelns bis heute in erster Linie nach dem schnellen Profit bemisst und längerfristige Kosten-Nutzen-Rechnungen beiseite schiebt. Aufgrund der robusten kommunalen und regionalen Partikularinteressen endet die Durchsetzungsfähigkeit des staatlichen Regulierungsanspruchs auch im Umweltschutz dort, wo die lokalen Führungskader in Personalunion oder als stille Teilhaber mit den ortsansässigen Unternehmen an einem Strang ziehen.
Das zweite große Handicap sieht die Autorin in dem umweltpolitischen Instrumentarium, das nach wie vor überwiegend auf Sanktionen und nachsorgenden Reparaturen statt auf vorbeugenden Umweltschutz ausgerichtet ist. Dabei sind es nicht zuletzt die ohnehin schon hochgradigen sozialen Spannungen, die die Regierung zögern lassen, verschwenderischen Verbrauchsgewohnheiten bei Wasser oder Strom über markt- und kostengerechte Preise wirksamer gegenzusteuern.
Da die staatliche Daseinsvorsorge beim Schutz einer lebenswerten Umwelt versagt, hat sich trotz aller Beschränkungen seit Mitte der 90er-Jahre eine erstaunlich lebendige ökologische Basisbewegung entwickelt. Elizabeth Economy hat sich in dieser von engagierten Intellektuellen getragenen Szene umgeschaut und vermittelt kenntnisreiche Einblicke in die Strukturen und in die Netzwerke, die sich zwischen der Vielzahl von regional operierenden Umweltgruppen und den Medien herausgebildet haben.
Dass der Staat auf die ökologische Wächterrolle dieser Basisorganisationen einerseits kaum verzichten kann, andererseits aber mit restriktiven Bestimmungen dafür sorgt, dass sie jederzeit verboten werden können, macht deutlich, wie prekär das Umfeld ist, in dem sie sich bewegen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Umweltbewegung in China eine ähnliche Rolle spielt wie im vormals kommunistisch regierten Osteuropa. JÜRGEN KAHL
Elizabeth C. Economy: „The River Runs Black. The Environmental Challenge to China’s Future“. Cornell University Press, Ithaca/London 2004, 337 Seiten, 26 Euro