■ Eine Erklärung ehemaliger DDR-Bürgerrechtler:: Gegen „Schlußstrich“, gegen Amnestie und Verjährung
Wir wenden uns gegen Überlegungen und Vorschläge, daß ein „Schlußstrich“, eine Amnestie oder eine Verjährung von sogenannten „minderschweren Straftaten“ entscheidend beitragen könnten, deutsche Diktaturvergangenheit zu bewältigen. Es gibt keinen „Schlußstrich“ unter die Verbrechensgeschichte zweier menschenverachtender Systeme. Ohne Gleichsetzung von Nationalsozialismus und stalinistischem „SED“- und MfS-Kommunismus kann festgestellt werden, daß nur eine an den Betroffenen und Opfern orientierte Erinnerung erreichen kann, die „humane Orientierung“ (R. Giordano) wiederzuerlangen.
Wir machen darauf aufmerksam, daß zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen in der Untersuchungshaft des MfS (Einsatz von Zelleninformatoren, Verhörmethoden u.a.) und „aktive Maßnahmen der Zersetzung“ von feindlich- negativen Personen“ in „Operativen Vorgängen“ gegen Andersdenkende und Friedens- und Menschenrechtsgruppen, Ausreisewillige u.a. aus einer Summe von „Bagatelldelikten“ bestanden, die vorsätzlich und geplant von Stasi-Offizieren im Hintergrund koordiniert und in ihrer zerstörerischen Wirkung gebündelt wurden. Da es sich um moderne und konspirativ durchgeführte Verbrechen handelt, die „politisch-operatives Zusammenwirken mit anderen staatlichen Organen und Einrichtungen“ voraussetzten, wäre zu fragen, welcher juristische Sachverhalt vorlag. Zu erinnern wäre an die UNO-Definition der Folter (zitiert nach G. Keller „Die Psychologie der Folter“, Fischer TB Nr. 34/41): „Unter Folter ist jede Handlung zu verstehen, durch die einer Person von einem Träger staatlicher Gewalt oder auf dessen Veranlassung hin vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie für eine tatsächliche oder mutmaßlich von ihr begangene Tat zu bestrafen oder sie oder andere Personen einzuschüchtern.“ Wer die Passagen aus den Dienstanweisungen des MfS über „Zersetzung“ und „Anwendung aktiver Maßnahmen“ kennt, wer Stasi-Opferakten studiert hat und mit Betroffenen ins Gespräch kam, wird wissen, welche geistig-seelischen Schmerzen oder Leiden vorsätzlich zugefügt wurden, um Menschen einzuschüchtern. Unsere Frage ist also: Was sind die Kriterien, um „minderschwere Straftaten“ in diesen Zusammenhängen zu klassifizieren?
Der Gesetzgeber hat sich 1993 entschlossen, die Verjährungsfristen für Straftaten im Zusammenhang mit der Regierungs- und Vereinigungskriminalität zu verlängern. Er verwies auf den noch nicht abgeschlossenen Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern und die große Anzahl der unerschlossenen Stasi-Akten. Heute, im Jahre 1995, sind immer noch Kilometer von MfS-Akten nicht zugänglich. Zehntausende Betroffene warten auf ihre Ersteinsicht in die Opferakten. Auch führten Verunsicherungen durch die „Schlußstrich- Debatte“ zu einer neuen Antragsflut. Wer ungeachtet der 1993 geführten Diskussion heute – und trotz ähnlicher Bedingungen wie damals – Straftaten zum Jahresende verjähren lassen will, wendet sich gegen die Interessen der Betroffenen und Opfer, vor allem gegen das Anliegen der demokratischen Opposition der ehemaligen DDR, die maßgeblich zum Zusammenbruch des Systems beitrug. Der Bürger muß, wenn dies sein Anliegen durch den Antrag auf Akteneinsicht ist, wissen, welche konspirative Planung und Durchführung von möglichen Straftaten gegen ihn, seine Familie usw. durch wen verantwortet wird. Dies gilt auch für schwerere Straftaten, die bis 1997 verjähren sollen. In diesem Sinne steht der Gesetzgeber bzw. die Gesellschaft der Bundesrepublik vor einer Grundsatzentscheidung. Soll den Tätern und Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen ein „Schlußstrich“ angeboten werden, der in erheblichem Maße auf Nichtwissen der Betroffenen und Opfer basiert? Ist dies juristisch, politisch und moralisch verantwortbar? Wir verneinen dies.
Dabei geht es nicht um eine Verdammung der SED- und MfS-Täter. Wir wissen, wie „furchtbar schwer es für jeden Bürger in einer modernen Diktatur ist, nicht mitschuldig zu werden“ (Manès Sperber). Gerade aus diesem Verständnis für existentielle und persönliche Probleme fordern wir das Einbeziehen von Betroffenen in die Kennzeichnung von Verantwortung für das Unrechtssystem. Hierbei muß die Justiz der Demokratie ihren Beitrag leisten. Wir plädieren für Aufklärung und für einen Abschied von der Diktatur. Unser Wunsch ist nicht, möglichst viele mit hohen Freiheitsstrafen im Gefängnis zu sehen, denn wir kennen „Vernehmungszimmer“ und – einige von uns – auch die Gefängnisse von innen und wissen um den großen Wert der Freiheit. Aber genau aus dieser Erfahrung heraus warnen wir vor Stimmungen, die darauf abzielen, schlimme historische Gegebenheiten zu relativieren und einen kleinen, raschen Frieden mit den Tätern zu machen. Wir suchen die exakte Erinnerung, uns interessieren die Fakten und Zusammenhänge – der Menschen wegen und aus dem allerwichtigsten Grund: daß sich so etwas nie mehr wiederholt! Dies alles spricht gegen „Schlußstrich“, Amnestie und Relativieren der juristischen, politischen und moralischen Schuld. Auch fordern wir eine erneute Verlängerung der Verjährungsfristen in diesem Jahr. März 1993
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen