Eine Empfehlung der Lehrer für die Nächste Schulform ergibt Sinn, schliesslich erleben sie die Kinder jeden Tag: Kompetenter als die Eltern
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
In einer Folge der sehr guten alten Serie „Roseanne“ steht die ehrgeizige Becky vor dem Problem, dass sie – aus moralischen Gründen – in der Schule keinen Frosch sezieren möchte. Roseanne rät ihr, das zu tun, was sie für richtig hält und mit den Konsequenzen zu leben. Als Becky später eine Drei anstatt der Eins auf dem Zeugnis erhält, sagt Roseanne: „Wenn du eine Eins gewollt hättest, hättest du den Frosch seziert. Aber du kannst stolz sein auf diese Drei.“
In Hamburg und heute würde diese Geschichte sich so abspielen: Die Eltern von Becky würden in der Schule „das Gespräch suchen“, sie würden eventuell andere Eltern „mobilisieren“ und am Ende würden sie auf jeden Fall dafür gesorgt haben, dass die gute Becky zum einen von der Froschsezierung befreit worden wäre, und zum anderen dennoch die Eins bekommen hätte. Die „guten“ Eltern kümmern sich darum, dass Kinder ihren Weg gehen können.
„Eltern wissen am besten, was das Richtige ist für ihr Kind“, ist ein sicherer Kommentar unter beliebigen Artikeln über Erziehung im Internet. Aber Eltern wissen viel zu oft leider überhaupt nicht, was gut ist für ihr Kind. Das nahe Angehörigenverhältnis verstellt ihnen den unabhängigen Blick. Sie sind zu sehr selbst betroffen. Ihr eigener Lebenslauf, ihre verletzten Gefühle, ihre Eitelkeiten und ihr Ehrgeiz machen sie voreingenommen.
Erzieher und Lehrer sind nicht frei davon. Aber tendenziell sind sie objektiver in der Einschätzung eines Kindes, das nicht das ihre ist. Als studierte Pädagogen sind sie in vielen Bereichen kompetenter als Eltern, auch wenn ihnen diese Kompetenz gern und überall abgesprochen wird.
In Hamburg müssen sich Eltern nach der vierten Klasse für eine weiterführende Schule entscheiden. Die Lehrer sprechen eine Empfehlung aus. Die Lehrer sagen zum Beispiel: Wir empfehlen, das Kind auf ein Gymnasium zu schicken. Oder auch nicht. Die Linke möchte nun ganz aktuell in Hamburg diese Empfehlung der Lehrer für eine schulische Laufbahn abschaffen.
Wohlgemerkt, nicht den Zwang in eine schulische Laufbahn, sondern nur die Empfehlung. Zweifelt die Linke grundsätzlich an der Kompetenz der Lehrer in Hamburg? Und wenn dies so ist, schätzt sie dann die Kompetenz der Eltern höher ein? Denn wenn die Lehrer nicht einmal eine Empfehlung aussprechen sollen, die das Kind immerhin vier Jahre in der Schule erlebt haben, während die Eltern allenfalls bei den Hausaufgaben zugegen waren, wer soll dann überhaupt einschätzen können, wozu ein Kind in den kommenden Jahren in der Lage sein wird?
Die Linke ist der Ansicht, die Lehrer würden Schüler aus „sozial schwächeren“ Familien benachteiligen und deren Leistungsfähigkeit tendenziell als zu schwach einschätzen. Das würde für die pädagogische Kompetenz der Lehrer allerdings auch nichts Gutes bedeuten. Was auch immer „sozial schwach“ bedeuten soll, Kinder, deren Eltern sich nicht um sie kümmern, in vielerlei Hinsicht, sind ganz sicher auch hinsichtlich ihrer Bildung benachteiligt. Aber werden deren Chancen besser, wenn die Lehrer aufhören, eine Empfehlung auszusprechen?
Wie vielen Kindern aus „sozial schwachen“ Familien würde wohl durch die Unterlassung einer Empfehlung der Weg in die höhere Bildung geebnet werden?
Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung sagen, dass ich durchaus das Wort und die Erfahrung von Pädagogen schätze. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, war ich immer interessiert an dem Blick, den sie auf meine Kinder hatten. Sicher können sie irren, aber das können wir alle, und wir arbeiten und erziehen immer weiter. Wir hören nicht damit auf. Ich meine, wir sollten den Lehrern mehr Wertschätzung entgegenbringen. Wir sollten uns nicht in alles einmischen, wir wissen es nämlich nicht immer besser.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
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