Eine Akkordeonistin im Interview: „Das Instrument hat meine Schwingung“

Dass das Akkordeon ein ernst zu nehmendes Klassik-Instrument ist, hat Hannovers Hochschulprofessorin Elsbeth Moser ihren Musikerkollegen beigebracht.

Von Sofia Gubaidulina inspiriert: Elsbeth Moser. Bild: Christian Wyrwa

taz: Frau Moser, wann beschlossen Sie, Akkordeonistin zu werden?

Elsbeth Moser: Mit viereinhalb. Das Akkordeon stand unter dem Weihnachtsbaum, ich rannte darauf zu, schloss es in die Arme und wusste: Das ist es! Das will ich für immer machen!

Wie kamen Ihre Eltern auf das Akkordeon?

64, stammt aus Bern und ist seit 1983 Professorin für Akkordeon an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Seit 1998 ist sie zudem Ehrenprofessorin an der Musikhochschule in Tianjing sowie Gastprofessorin am Shanghai Conservatory for Music und an der Universität im kroatischen Pula.

Mein Großvater mütterlicherseits war Akkordeonist mit Leib und Seele. Ich habe ihn leider nicht gekannt, aber sein Talent ist anscheinend bei mir gelandet.

War er Profi-Musiker?

Nein. Er war Bäcker und Konditor und spielte in seiner Freizeit Schwyzerörgeli, ein kleines Knopfakkordeon. Das ist ein in der Schweiz beliebtes Volksinstrument, und mein Großvater spielte es mit Leidenschaft. Und weil er so früh starb, hat meine Mutter gesagt, wenn sie mal Kinder hat, sollen sie in seine Fußstapfen treten.

Was Sie taten.

Ja. Mein erster Akkordeonlehrer war ein Freund meines Großvaters. Er hat mich oft mit dem Opa verglichen, weil ich ähnlich schmale Hände hatte wie er. Ich liebte dieses Instrument sehr.

Liebte auch die Gesellschaft, was Sie taten?

Nein. Ich habe mit sechs mein erstes Konzert gespielt, aber die Gesellschaft war aufgrund des „nicht klassischen“ Instruments nicht sehr nett zu mir. Um mich vor Vorurteilen zu schützen, haben mich die Eltern deshalb zusätzlich ein „anständiges“ Instrument lernen lassen – das Klavier. Bis ich 20 war, habe ich beide Instrumente gespielt.

Hat es geholfen?

Vom Renommee her schon. Wenn mich meine Lehrer in der Schule fragten, ob ich musiziere, und ich sagte begeistert: „Ja! Ich spiele Akkordeon!“, dann hieß es: „Was ist das denn? Subkultur!“ Ab meinem zehnten Lebensjahr hatte ich dann einen Trumpf im Ärmel: Sobald ich sagte: „Ich spiele auch Klavier“, waren alle glücklich. Mein Favorit blieb aber das Akkordeon.

Aber warum mussten Sie es auch noch studieren?

Weil es mein tiefer Wunsch war, dieses Instrument, das viele als folkloristisch verachteten, konzertfähig zu machen.

Und was ist so großartig am Akkordeon?

Es ist am Körper. Es ist Teil von mir. Es hat meine Temperatur, meine Schwingung, meinen Atemrhythmus. Und dieses Atmen gibt dem Instrument unendliche Möglichkeiten der Tonmodulierung. Das ist wie beim Singen: Sie können beim Akkordeon mit wenig Luft ganz feine Töne produzieren und sogar Zwischentöne erzeugen. Das Klavier kann das alles nicht. Deshalb habe ich das Klavier nach den Examina nicht mehr angerührt.

Viele Akkordeonisten spielen aus dem Stegreif. Können Sie das auch?

Nein, das konnte ich nie. In letzter Zeit interessiere ich mich allerdings immer mehr fürs Improvisieren. Und für zeitgenössische Musik, die mit traditionellen Hörgewohnheiten bricht. Da kommt mir der Facettenreichtum des Akkordeon-Timbres sehr zustatten.

Wie viele klassische Stücke für Akkordeon gibt es eigentlich?

Lange Zeit hat man Werke, die für andere Instrumente geschrieben waren, transkribiert. In den letzten 60 Jahren sind aber viele Werke bedeutender Komponisten entstanden. Mauricio Kagel hat zum Beispiel für Akkordeon geschrieben, Edisson Denissow, Toshio Hosokawa, die seit 1992 in Deutschland lebende Russin Sofia Gubaidulina …

mit der Sie oft zusammen gespielt haben.

Ja, mit ihr verbindet mich eine tiefe Freundschaft. Aber schon bevor ich sie persönlich kennenlernte, hatte ich ein Schlüsselerlebnis, als ich ihre „7 Worte Jesu am Kreuz“ zum ersten Mal hörte. Das Stück ist für Bajan, Cello und Orchester komponiert und hat mich umgehauen.

Weswegen?

Wegen seiner Intensität, denn es handelt ja von der Quintessenz des christlichen Glaubens: dem Gottvertrauen im Moment des Todes. Ich habe das Stück 1984 bei einem Moskaubesuch gehört und wollte es unbedingt spielen. Aber Sofia Gubaidulinas Musik war in der damaligen Sowjetunion unerwünscht, und es gab keine gedruckte Partitur. Die handschriftliche Partitur hat mir Sofia ein Jahr später bei unserer ersten persönlichen Begegnung geschenkt. Überhaupt hat sie mir den Weg in die Weltmusik gewiesen. Der Durchbruch kam 1986. Da hat der Geiger Gidon Kremer Sofia ins österreichische Lockenhaus geholt, und wir haben die westeuropäische Uraufführung der „7 Worte“ gespielt. Es war tief bewegend. Und Sofia arbeitete täglich mit uns.

Reizt Sie an Gubaidulinas Stücken auch die spirituelle Dimension?

Ja. Bei Sofia finde ich wunderbar, und das gilt für mich auch: dieses Re-ligio, das Wiederverbinden der Zeitachse der Erde mit der Vertikalen des Himmels. Das finde ich jeden Augenblick – sowohl in Sofias Musik als auch in meinem Dasein: Zeit ist horizontal, sie ist das Jetzt, das Vergehen. Aber es gibt auch die Weite des Universums, der Unendlichkeit. Dahin schaue ich, und da empfange ich meine Inspiration.

Und Sie geben sie weiter, zum Beispiel in China. Tun Sie das aus Missionseifer?

Nein, das ist nicht nötig. Das Akkordeon hat sich dort nämlich im Zuge der Kulturrevolution rasant verbreitet. Damals wurden viele klassische Instrument als chauvinistisch abgestempelt und verboten, aber das Akkordeon nicht. Das führte dazu, dass etliche Pianisten auf Akkordeon umsattelten, um nicht zur Kärrnerarbeit aufs Land verschickt zu werden. Seither ist das Akkordeon in China unglaublich beliebt, und plötzlich gibt es in China Hunderte, Tausende, Millionen Akkordeonisten!

Woher stammen Ihre anderen Schüler?

Ich habe in meiner Klasse einige Serben, Kroaten, Griechen. Auch Litauer waren schon hier, Russen, Ukrainer, Franzosen, Schweizer, Deutsche …

Wie viele Ihrer Studenten kommen aus der Volksmusik?

Bei vielen ist es schon der Ursprung. Ich habe zum Beispiel einige, die ganz fantastisch serbische Volksmusik spielen.

Versuchen Sie, den Studenten ihr „Volksmusik“-Spiel auszutreiben?

Nein. Wenn jemand aus der Volksmusik kommt, schimmert das natürlich durch: Das Stegreif-Spiel ist ein bisschen wilder – aber es ist gekonnt, es hat Herz und Seele, und das lasse ich den Studenten auch. Das ist eine Schiene, die sie pflegen sollen. Aber ich bringe ihnen bei, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Und welche Berufsaussichten haben Ihre Absolventen?

Eine Möglichkeit ist das Unterrichten. Die zweite ist die Kammermusik, das ist immer ein Way out. Ich sage meinen Studenten oft: Ihr müsst Nischen suchen, kleine Ensembles gründen zum Beispiel.

Heißt das, Ihr Kampf fürs Akkordeon ist ausgekämpft?

Weitgehend. Als ich vor gut 30 Jahren an die Hannoversche Hochschule kam, hat mich in der Klassik-Szene kaum jemand ernst genommen. Ich musste betteln, damit ich in einem Ensemble mitspielen durfte. Inzwischen hat sich das umgedreht: Da fragen die Klassik-Kollegen, ob sie Schüler von mir für ein Konzert haben können.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.