: Ein manisches „Du“
Biographische Landkarten: Das persönliche Dokument, eine Ausstellung mit Fototagebüchern im NGBK ■ Von Harald Fricke
Auch eine Art Bilderwahnsinn: 3.000 Fotografien von Bodo Nussdorfer, für jeden Tag eine, vom 1.7. 1985 bis zum 31.8. dieses Jahres zusammengetragen. Vielleicht gehört Akribie im Alltäglichen zur Leidenschaft des Tagebuchschreibers. Nichts darf verlorengehen, alles muß Erinnerung werden, wo doch die Kamera den Augenblick aufnimmt und gleich wieder verschließt. Hier ist es das Leben in Bielefeld, zwischen Punkertrinkgelage und Sonnengebade, so wie Gott Nussdorfer schuf. Mit vagen Angaben zu Ort und Zeit beschriftet, knüpft der slowenische Foto- Designer an die ungetrübte Klassifizierungslust von Urlaubsknipsern an.
„Das persönliche Dokument“, eine Ausstellung des Realismus- Studio im NGBK, ist den traditionellen Volksfotos der siebziger Jahre verbunden und sucht zugleich die Nähe zur großen Kunst. Um die Ecke der Nußdorferschen Foto-Tapete liegt ein kostbar gebundenes Buch mit surreal doppelt belichteten Reiseaufnahmen von Gundula Schulze el Dowy aus: Über das Antlitz einer alten Relief-Statue in Hathor, Memphis, spiegelt sich ein ägyptischer Knabe auf einem Pferd. Dahinter geht die Sonne unter. Schulze, die vor zwei Jahren noch mit fantastisch fotografierten Geburts-Realitäten eine Brücke zu Nan Goldins Privat-Archiv geschlagen hatte, scheint auf ihren Reisen durch den afrikanischen Norden nicht allein das „Auge als Tor zur Welt“ entdeckt zu haben, wie eines der Farbbilder untertitelt ist. Plötzlich tauchen Mensch und Esel auf einem steinernen Bergpfad auf, das Bild ist 1993 in Sinai entstanden: „Moses auf dem Berg“.
Auch Ingrid Bahß hat ihr schwankendes Innenleben mit Fotos überbrückt, als Teil eines Klinikaufenthaltes in der psychotherapeutischen Abteilung des Diakonissenmutterhauses Halle/ Saale: „Das Übersetzen täglicher Erfahrungen, Erkenntnisse und Befindlichkeiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung ins Foto diente als Mittel der Formulierung, um mir Prozesse deutlich zu machen“, schreibt die heute in Köln lebende Erzieherin aus der Distanz von sieben Jahren. 1987 ergaben vierzig Tage unter Aufsicht noch eine „Zeit Null“, die mehr von außen erlebt, in Schaufenstern gespiegelt oder an Graffiti-Sprüchen auf Häuserwänden abgelesen wurde. Dort steht dann ein manisches „Du“ in Großbuchstaben mit Kreide aufgemalt, von Bahß mit einem Kommentar auf dem Fotorand beschriftet: „Ich mach' mir's sauschlecht. Scheiß keiner merkt's. Ich wünsch' mir einen Vater, der mich in seine Arme nimmt.“
Der Leipziger Klaus Elle geht in seiner Auseinandersetzung mit den biographischen Erinnerungen wie bei einem Exorzismus vor. Seine Fotos werden übermalt, eingeritzt, mit bruitistischen Zeichen überzogen und im wesentlichen beschriftet. Der Text führt ähnlich einer Strickleiter zurück in die Zeit und versperrt sich zugleich der Melancholie, die solchen Projekten meistens anhaftet. Das Hochzeitsfoto seiner Eltern hat Elle mit Dixschen Karikaturgesichtern überarbeitet, dem Vater im Mittelpunkt der Aufnahme hängt ein primitiv hingekrakelter Schwanz aus dem Hemd.
Die Fronten sind scheinbar klar. Elle will den Kopf der Familie nicht anerkennen und nennt ihn doch den „Gärtner meiner Erbanlagen“. Allein das Portrait der aufgebahrten toten Großmutter ist mit einer liebevollen Laudatio umgeben, die wie bei Proust das vergangene Leben in die Notwendigkeit der eigenen Gegenwart verlängert: „Du warst mir nie nahe, obwohl du gewiß gut zu mir warst.“
Kaum eine Fotoreihe aber dokumentiert so verblüffend den Zusammenhang von eigener Zeit und der ablaufenden historischen wie die penetranten Selbstbildnisse von Hermann Stamm. Stamm hält sich mit der Kamera wortwörtlich fest. Über zehn Jahre lang hat er sich aus einer Art Paßautomatenperspektive portraitiert bei wechselndem Hintergrund quer durch die Bundesrepublik: von der Truppenparade in Berlin 1983 bis zur verlassenen Transitstelle in Hof. Das Gesicht altert, an den Flügeln der knolligen Nase wuchern Falten, der Blick sticht. Je länger man auf die vierzig DIN-A4-Blatt großen Bilder starrt, um so mehr möchte man diesem Blick ausweichen, der doch eigentlich nur auf sich selbst gerichtet starrt. Das aber ist der Trick, mit dem Stamm arbeitet: Erst die Beharrlichkeit in seinem Gesichtsausdruck läßt auf einmal das sich wandelnde Umfeld der Portraits erkennen. Plötzlich glaubt man im aufdringlichen Bild jener privaten Geschichte die eigenen Ränder wiederzuerkennen. Dann steht Stamm nicht mehr allein in Lederjacke auf dem U- Bahn-Steig der Linie 1 am Kottbusser Tor oder vor Jonathan Borofskys Himmelstürmer auf der documenta. Irgendwie hatten wohl alle schon einmal die gleichen Termine.
„Das persönliche Dokument“, bis 16.10., tgl. 12–18.30 Uhr, im NGBK, Oranienstraße 25, Kreuzberg.
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