Ein letztes Mail feiern: Der lange Weg zum Tor
Nach der Rückkehr aus Brasilien lässt sich die deutsche Mannschaft in Berlin als Weltmeister feiern. Der Truck mit den Spielern zur Fanmeile kommt nur mühsam voran.
Und dann hält er einfach an. Stoppt seinen tonnenschweren Regionalexpress auf der Spreebrücke zwischen Hauptbahnhof und Friedrichstraße. Guckt durchs Lokführerfenster und hupt sein Lockführerhupen. Die deutsche Mannschaft feiert in Berlin ihren vierten Weltmeistertitel, und ein Lokführer lässt einfach seine Lok stehen. Zehntausende jubeln ihm zu.
Einmal noch feiern, einmal noch Schwarzrotgoldsein, bevor jeder wieder in seinen Alltag, seinen Stadtteil, seinen Mikrokosmos verschwindet. Schon eine Stunde, bevor der offene Truck mit Müller, Boateng und Co. durch die Straßen rollt, haben sich Tausende an der Kreuzung Luisen-, Ecke Reinhardtstraße versammelt. Aufgeregte Schlandmädchen warten neben Angestellten, die gestärkten Hemden in Schwarz-rot-gold gehüllt. Drei Bauarbeiter verteidigen das Dach ihres Bauwagens. Auf den Balkons der Büroklötze, sonst eher Raucherecke, drängeln sich die Schaulustigen. Später wird Bastian Schweinsteiger sagen: „So viele Menschen am Straßenrand: Das kenn ich selbst aus München nicht.“
„Warum soll ich auf der Fanmeile ganz hinten stehen, wenn ich sie hier ganz nah erlebe?“, freut sich ein Amerikaner auf die deutschen Helden. Auch aus der Charité rückten sie an. Einer hat seine Kanüle mühsam untern Verband geklemmt. „Bestimmt sind jetzt auch die OP-Säle verwaist“, scherzt er. Berlin feiert nach dem verregneten Finalabend endlich sein Sommermärchen, und alle machen verrückte Sachen.
„Hoffentlich hält der Akku“, seufzt einer und zeigt auf seinem Handy den Live-Stream: Endlich setzt sich der Truck in Bewegung, bald wird er da sein. Ein Lesbenpärchen zeigt viel Haut und Tattoos. Eine Stimmung wie bei Love-Parade und Public-Viewing, nur, dass es diesmal live ist. Und ein letztes Mal der kleinste gemeinsame Nenner zelebriert wird: Ein Ball, drei Farben, eine bunte Truppe. Darauf kann man sich einigen. Deutschland 2014 grenzt keinen aus, zumindest nicht in diesem Moment.
Die Spannung steigt, ein Touristenbus ist das erste Opfer. Als er sich durch die Menge schiebt, ertönen die ersten Sprechchöre: „So sehen Sieger aus!“ Im Bus sitzt eine Schulklasse, macht Faxen. „Den Berlin-Ausflug werden sie nicht vergessen“, sagt einer, Tränen in den Augen. Gleich darauf fährt eine Wanne vor. Ein Polizist kurbelt das Fenster herunter und schnürt den Mund zum Kuss. Seine Freudin in der Menge hat auf diesen Moment gewartet. Wieder so was Verrücktes, und alle jubeln.
„Wow was hier los ist! Wahnsinn!“, twittert Mario Götze. Viele verfolgen das Geschehen auf den Newstickern. „Auf der Spree haben sogar die Ausflugsdampfer gestoppt“, heißt es. Der Fahrer des Trucks mit einer zulässigen Last von 50.000 Tonnen sagt: „Natürlich muss man mehr aufpassen, weil die Leute stellenweise unberechenbar sind. Man will natürlich auch vermeiden, dass man stark auf die Bremse geht, weil man ja weiß, was man hinten drauf hat.“
Verrückte Sachen hat auch der Jumbojet „Fanhansa Siegerflieger“ gemacht, den der DFB gechartert hat. In tausend Meter Höhe flog er über die Fanmeile und wackelte mit den Tragflächen, bevor er aus Rio in Tegel landete. So wie manchmal Thomas Müller übers Spielfeld rennt. Dann startete er noch mal zu einer Ehrenrunde über Mitte. Manche finden den Tiefflug unheimlich.
Dann sind sie da. Müde, die dunklen Augenringe hinter Sonnenbrillen verborgen. Per Mertesacker tanzt, Sami Khedira filmt mit der Handycam, nur Jerome Boateng wikt abwesend, tippt eine SMS. An seinen Bruder, der im Deutschland-Team „Typen“ vermisste? Auf der Fanmeile wird er emotional werden. „Ich bin stolz, Berliner zu sein.“
Klaus Wowereit wird sich den Spruch vermutlich einrahmen. Im Deutschland-Trikot mit Jackett drüber geleitet er jeden einzelnen Spieler zum goldenen Buch der Stadt. So viel schöne Bilder hat er lange nicht erlebt. Nun ist auch Wowi-Weltmeister. Bis zur nächsten BER-Sitzung.
Den Empfang auf der mit mehreren Hundertausend Schaulustigen völlig überfüllten Fanmeile erlebt das Mitte-Publikum dann im Live-Stream am Arbeitsplatz oder den paar Kneipen, die noch Rudelgucken anbieten. Es ist ernüchternd. Miro Klose und seine Brasilien-WG verhohnepiepeln die Argentinier im „Gaucho“-Gang, der Moderator kündigt Helene Fischer an: „Nur anschauen, nicht anfassen.“ Zum Verrücktwerden sind die Sachen, die die Helden von Rio da auf der Bühne veranstalten. Mittwanziger sind sie plötzlich und feiern gar nicht weltmeisterlich, sondern altersgerecht. Gut, dass es vorbei ist.
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