Ein gelungener Abschied, der Probleme übertüncht.: Eine perfekte Inszenierung in Plüsch
Der FC St. Pauli bleibt nach dem 5:1 (2:0) gegen Aufsteiger Eintracht Braunschweig zweitklassig und verabschiedet scheidende Fußballgötter.
HAMBURG taz | Es gibt Momente, da passt alles zusammen. 29.063 Zuschauer am Millerntor erlebten am Sonntag so einen Moment: Der FC St. Pauli fegte über den müden Bundesliga-Aufsteiger Eintracht Braunschweig mit 5:1 hinweg, vertrieb das Abstiegsgespenst und bereitete zwei in Rente gehenden Fußball-Senioren, die von den Fans längst in den Rang von „Fußballgöttern“ erhoben wurden, einen denkwürdigen Abschied: Florian Bruns (33) konnte mit dem 4:0 (70.), ebenso wie der spät eingewechselte Marius Ebbers (35) mit dem 5:0 (87.), zum endgültigen Klassenerhalt mit ihren Abschiedstoren beitragen.
Der Rest war Feiern mit Teddys und Tränen: Zum Abschied begruben die Hamburger Fans auf Ebbers Wunsch hin das Spielfeld mit hunderten über die Zäune geschleuderten Plüschtieren. Und als sich der so Verabschiedete über den Stadionlautsprecher „für die schönsten fünf Jahre meiner Karriere bedankte“, schimmerten auch die Augen manch eines Sportreporters feucht. „Wenn man einen Tag malen könnte, er sähe genauso aus, vielleicht mit etwas mehr Sonne“, fasste Fabian Boll, der wegen einer aufgebrochenen Knöchelverletzung in letzter Minute aus dem Kader gestrichen werden musste, das Abschiedsfest in Worte.
Die Braunschweiger wollten diese perfekte Inszenierung partout nicht stören. Ob es die Nachwirkungen einer aufstiegsbedingten kollektiven Alkoholvergiftung, Nord-Solidarität oder schlicht Arbeitsverweigerung war: Der Neu-Bundesligist fügte sich kampflos in sein Schicksal, lag schon nach elf Minuten durch einen Doppelpack von Daniel Ginczek zurück und durfte dann kurz vor Abpfiff zumindest noch den 1:5-Ehrentreffer durch Gianluca Korte feiern. Die Hamburger hingegen machten von der ersten Sekunde an Dampf, gewillt, den Klassenverbleib vor heimischer Kulisse endgültig zu sichern.
So lagen sich am Ende alle gerührt in den Armen und genossen ein Happy-End, das für den Moment die Probleme der vergangenen Saison verdeckte. Statt um den Aufstieg mitzuspielen, kämpften die Hamburger vom ersten Spieltag an nur ums nackte Überleben in der Liga, feuerten erst den Sportchef, dann den Trainer und kamen trotzdem bis zum Wochenende einfach nicht aus dem Keller heraus.
Auch unter Michael Frontzeck ist keine Trendwende erkennbar. Am Ende der Hinrunde, in deren Mitte Frontzeck das Team übernahm, stand es mit sieben Punkten Abstand zur Abstiegszone auf Platz 12 und steht dort mit einem Punkt weniger Differenz noch heute. Längst wird auch innerhalb des Vereins Frontzecks Engagement kritisch diskutiert: Seine Gegner werfen ihm vor, dass sich weder die Mannschaft noch einzelne Spieler weiterentwickelt hätten noch eine Handschrift des Trainers oder gar eine klare Spielidee erkennbar seien. Mal hoch, mal flach, mal kurz, mal lang: Der Spielaufbau des Hamburger Zweitligisten wirkt oft beliebig und konzeptfrei.
Während mit Ebbers, Bruns und vielleicht auch Benedikt Pliquett erneut altgediente Korsettstangen den Verein verlassen, hat der Kader für die neue Saison noch kein Gesicht: Mit dem Bochumer Offensivtalent Marc Rzatkowski (22) und dem Dortmunder Abwehrspieler Marcel Halstenberg (21) gelang es Sportchef Rachid Azzouzi zwar, zwei hoffnungsvolle neue Akteure für den Kader zu gewinnen, weitere Personalentscheidungen aber blieben wegen der ungewissen Ligazugehörigkeit bislang aus.
Erwartet wird nun der baldige Vollzug der Transfers zweier Spieler von Bundesligaschlusslicht Greuther Fürth, Azzousis vormaligem Verein: Stürmer Christopher Nöthe (25) und Verteidiger Bernd Nehrig (26) sollen am Kiez anheuern.
Unsicher hingegen ist die Zukunft von gleich fünf Leihspielern: Goalgetter Ginczek zieht es in die erste Liga. „Der Verein wird alles tun, dass er bleibt“, versprach Frontzeck nach dem Spiel, schränkte aber sogleich ein: „Wir müssen realistisch sein, er hat das Potenzial für die erste Liga“. Patrick Funk und Joseph-Claude Gyaus werden wohl in Hamburg bleiben, Akaki Gogias und Christopher Avevors Zukunft steht noch in den Sternen.
Wie immer der neue Kader auch aussieht: Diesmal müssen Azzouzi und Frontzeck nicht mit den Spielern arbeiten, die sie vorfanden, sie haben das neue Team dann selbst zusammengestellt. An seinem Erfolg oder Misserfolg werden sie gemessen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs