piwik no script img

Ein freier Nachmittag in einer ehemaligen Siedlung für sozialen Wohnungsbau.Alke Wierth lernt hier vielesGoldzähne zu Geld gemacht

Es ist ein son­ni­ger Nach­mit­tag Mitte letzter Woche. Ent­spannt wie sel­ten sitze ich in einer inzwischen über­teu­er­ten Sied­lung des frü­he­ren so­zia­len Woh­nungs­baus in Neu­kölln und amü­sie­re mich über die Kom­pli­men­te, die fast alle der vor­beige­hen­den Frau­en tür­ki­schen, ara­bi­schen, afri­ka­ni­schen und deut­schen Ur­sprungs dem neben mir sit­zen­den So­zi­al­ar­bei­ter der Sied­lung zu­ru­fen. Er hat ein neue Fri­sur, etwas län­ge­re Haare.

„Du siehst zehn Jahre jün­ger aus!“, habe ich ihm selbst bei mei­ner An­kunft in der Sied­lung ge­sagt. Nun muss ich la­chen, weil alle vor­bei­ge­hen­den Frau­en Ähn­li­ches sagen. Er freut sich sehr dar­über.

Dabei haben wir ei­gent­lich an­de­re, ernst­haf­te Pro­ble­me. Wir dis­ku­tie­ren dar­über, wie un­ge­recht es ist, dass wir beide für un­se­re auf­rei­ben­de und ver­ant­wor­tungs­vol­le Ar­beit so wenig Geld be­kom­men. Wenn un­se­re Kin­der aus dem Haus sind und wir nicht mehr von Zu­satz­ein­kom­men wie Kin­der­geld oder Un­ter­halt ehe­ma­li­ger Part­ner pro­fi­tie­ren, sieht es für uns beide ganz schlecht aus. Von der Höhe un­se­rer Ren­ten ganz zu schwei­gen.

Als wir beide vor Kum­mer in Schwei­gen ver­sin­ken, steht Papi vor uns, ein Be­woh­ner der Sied­lung, klein, drah­tig, dun­kel­haa­rig. Aber trotz­dem sieht Papi eher wie Opi aus. „Papi, wo sind denn deine Zähne?“, fragt der So­zi­al­ar­bei­ter. „Ver­kauft!“, grinst Papi zahn­los: „Die hab ich ver­kauft!“

Dem wei­te­ren Ver­lauf des Ge­sprächs ent­neh­me ich, dass Papi vor we­ni­gen Wo­chen neue Zähne be­kom­men hat, nach­dem die alten alle aus­ge­fal­len waren. Gold­zäh­ne, ent­we­der vom So­zi­al­amt oder vom Job­cen­ter be­zahlt, das wird mir nicht ganz klar. Statt zu ge­nie­ßen, end­lich wie­der etwas an­de­res als Suppe essen zu kön­nen, hat er sie flugs zu Geld ge­macht, Papi zap­pelt beim Er­zäh­len vor Freu­de über seine gute Idee. „Und jetzt?“, fragt der So­zi­al­ar­bei­ter? „Ess ich wie­der Suppe“, strahlt Papi und zieht los.

Wir sehen uns an. „Hast du auch Gold­zäh­ne?“, fragt mich der So­zi­al­ar­bei­ter. Ich lä­che­le zu­rück. Mit ge­schlos­se­nem Mund.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen