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Archiv-Artikel

Ein fast privates Vergnügen

Die neue Kanzlerin hat ihr Angela-Merkel-Gesicht ausnahmsweise zu Hause gelassen. Und denkt doch selbst im Triumph schon wieder an – Arbeit

AUS BERLIN JENS KÖNIG UND LUKAS WALLRAFF

Als Angela Merkel dann endlich gewählt ist und die ersten Glückwünsche bereits entgegengenommen hat, steht plötzlich der lange Horst Seehofer vor ihr. Der neue Landwirtschaftsminister, der sich in seinem Hauptberuf als Sozialapostel der CSU noch vor Monaten mit Merkel so überworfen hatte, dass sie kein einziges Wort mehr miteinander sprachen, dieser Seehofer also gratuliert seiner Bundeskanzlerin. Er schaut ihr drei Sekunden lang in die Augen, drückt genauso lange ihre Hand und sagt nur: „Ohne Worte.“ Daraufhin fragt ihn Merkel: „Und, wie läuft’s mit dem EU-Agrarrat?“

Seehofer erzählt diese Episode später im Foyer des Berliner Reichstages. Seine Augen leuchten. „Sehen Sie“, sagt er, „so stellt man sich eine Kanzlerin vor: von der ersten Minute an voll in der Verantwortung. Da gibt es keine Privatheit, selbst in so einem Moment nicht.“

Das ist natürlich typisch Merkel, denkt man, die Frau kontrolliert sich doch selbst dann noch, wenn das Licht aus ist. Das tut sie also erst recht an so einem Tag, an dem alles um sie herum hell erstrahlt, an dem ihr jeder dabei zusehen kann, wie sie die letzten Meter absolviert, um endgültig ans Ziel ihrer politischen Träume zu gelangen. Jetzt also ist sie Kanzler. Kanzlerin. Eine Frau. Die erste in der Geschichte der Bundesrepublik. Und Angela Merkel hat in diesem Moment nichts Besseres zu tun, als an den europäischen Agrarministerrat zu denken, der in Brüssel zwei Tage lang die heikle Zuckermarktordnung berät. Meinte sie dieses klirrende Pflichtbewusstsein, als sie im Mai versprach, sie wolle Deutschland dienen?

Vermutlich, aber wie so vieles erzählt auch diese kleine Geschichte nur die halbe Wahrheit der Angela M. Wer sie an diesem historischen Tag begleitet, wer sie dabei beobachtet, wie sie die einzelnen Stationen des zivilen Zeremoniells einer demokratischen Thronbesteigung absolviert, der kann schon erkennen, dass diese Frau sehr wohl die Außergewöhnlichkeit ihrer eigenen Ankunft im Zentrum der Macht empfindet. Die Kanzlerinwahl im Bundestag, ihre offizielle Ernennung durch den Bundespräsidenten im Schloss Charlottenburg, ihr Amtseid, die Ernennung ihrer 15 Minister, deren Vereidigung – Angela Merkel möchte ihre Gefühle ausnahmsweise mal nicht verbergen. Natürlich trägt sie ab und zu noch ihr Angela-Merkel-Gesicht durch die Gegend, aber die meiste Zeit lächelt sie doch sehr befreit.

Für ihre Verhältnisse ist das dann doch schon fast privat. Wie auch die Tatsache, dass am Vormittag auf der Besuchertribüne des Reichstages ihre gesamte Familie Platz genommen hat: ihre Eltern Herlind und Horst Kasner sowie ihre Schwester Irene und ihr Bruder Marcus. Nur ihr Mann, der Chemieprofessor Joachim Sauer, bleibt seiner Rolle als Phantom der Berliner Medienrepublik treu; er schaut sich das Spektakel in seinem Büro im Fernsehen an. Der Merkel-Clan wird also Zeuge, wie Angela ausgerechnet im Moment ihres Triumphes ein paar kleine Schrammen zugefügt bekommt. Bundestagspräsident Norbert Lammert verkündet die einzige Zahl, die an diesem Tag von Belang ist: 397. Angela Merkel ist für einen Augenblick erschrocken – und zieht dann ihre Mundwinkel nach oben.

Mit 397 Stimmen ist sie soeben zur Kanzlerin gewählt worden. 397 von 448 möglichen Stimmen, über die SPD und Union gemeinsam verfügen. Also 51 Stimmen der großen Koalition gegen sie. So gnadenlos ist die politische Lesart solcher Zahlen nun mal.

Der erste Gratulant ist Gerhard Schröder. Noch bevor Merkel ihre Wahl offiziell annehmen kann, schreitet der Ebennochkanzler schon zu seiner Nachfolgerin und drückt ihr die Hand. Eine demokratische Selbstverständlichkeit. Aber wer denkt dabei nicht an Schröders Macho-Ausbruch vom Wahlabend des 18. September, als er dieser Frau prophezeite, sie werde „keine Koalition unter ihrer Führung“ mit seiner SPD hinkriegen? Zu dieser Erinnerung passt jetzt ganz gut die süffisante Bemerkung des Bundestagspräsidenten. Merkels Wahl, sagt Lammert, sei „ein starkes Signal für viele Frauen und für manche Männer sicherlich auch“. Damit meint er nicht nur Schröder. Auch die wichtigen Unionsmänner dürften sich angesprochen fühlen. Edmund Stoiber zum Beispiel sitzt auf der Bundesratsbank und überlegt, ob er an dieser Stelle klatschen soll. Er hebt schon die Hände, doch dann tut er das, wofür er inzwischen berühmt geworden ist: Er zögert. Und klatscht dann nicht. Wenigstens kann ihn heute niemand verdächtigen, gegen Merkel gestimmt zu haben, Stoiber hat sein Bundestagsmandat bereits niedergelegt. Aber woher kommen Merkels Gegenstimmen aus den eigenen Reihen: von der Union oder der SPD?

Natürlich will es hinterher niemand gewesen sein. Olaf Scholz, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, gibt zu Protokoll, sein Gefühl sage ihm, „halbe, halbe“ seien die Gegenstimmen verteilt gewesen. „Abwegig“, meint CDU-Generalsekretär Roland Pofalla. Warum? „Weil’s nicht stimmt.“ Und überhaupt: Merkels Ergebnis bedeute „die höchste Stimmenzahl, die jemals ein Bundeskanzler erreicht hat“. So kann man es sehen. So wollen es vor allem die Merkelianer in der Union sehen. Fast alle verweisen darauf, dass ihre Chefin mehr Stimmen erhalten habe als Kiesinger 1966 als Kanzler der ersten großen Koalition. Keiner will sich heute die Freude über die CDU-Kanzlerin vermiesen lassen. Nicht mal die Sozialdemokraten. Ist ja jetzt auch ihre Kanzlerin. Am Montagabend hatte sie sogar die SPD-Fraktion besucht und für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit geworben. „Ich kenne niemanden, der sich dazu bekannt hätte, Frau Merkel nicht gewählt zu haben“, sagt SPD-Fraktionschef Peter Struck. Thema beendet. Die große Koalition werde „kein Zuckerschlecken“, lässt er noch wissen.

Nur einer erinnert an diesem Tag noch an eine andere Zahl: 5.000.000. So viele Arbeitslose gebe es in Deutschland, sagt Oskar Lafontaine. Am Abbau dieser Zahl müsse sich die neue Kanzlerin messen lassen, meint der Fraktionschef der Linkspartei, alles andere sei nebensächlich. Über das Kanzlerwahlergebnis rede nächste Woche kein Mensch mehr.

Der Satz könnte auch von Angela Merkel stammen. Noch für Dienstagabend hat sie ihre Minister zur ersten Kabinettssitzung bestellt.