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Ein deutsches Familienalbum

Über unsere Geschichte schreiben: In dem neuen Roman „Spione“ betreibt Marcel Beyer ein Spurensuchen und Spurenerfinden in der Nachkriegszeit. Es geht um Erinnerungen und Erinnerungslücken, und alle sind gefangen im großen visuellen Geflecht. An manchen Stellen kommt es zu Geisterbildernvon DIRK KNIPPHALS

Man findet sie häufiger auf Flohmarkten, in Trödelläden, manchmal auch in Antiquariaten – alte Fotografien und Postkarten, die ihren Besitzern sicher einmal viel wert waren, inzwischen aber in den Grabbelkisten der Geschichte gelandet sind. Festgehaltene Erinnerungen, Schnappschüsse und Posen, vergangene Moden, heute lächerlich wirkende Autos, die Höhepunkte, manchmal auch nur unwichtige Episoden eines Lebens in einem Augenblick; manche dieser Bilder, so mag man beim Wühlen denken, könnten einen ganzen Roman erzählen. Vom historischen Edelrost überzogen, so heißt das bekanntlich bei Thomas Mann.

Die ersten Notizen für seinen Roman „Spione“, so erzählt Marcel Beyer in seinem Vortrag „Länge und Dauer“, abgedruckt in der aktuellen Ausgabe der Literaturzeitschrift edit, seien vor acht Jahren entstanden. Und zwar habe ihn damals die Idee gereizt, das Leben eines Großelternpaares zu erfinden anhand einer Reihe wahllos zusammengekaufter alter Ansichtskarten. Die Idee muss in Marcel Beyer gearbeitet haben. In dem Vortrag fährt er zwar fort, dass von der ursprünglichen Idee schon bald nichts mehr übrig geblieben sei. Aber Schilderungen von Fotografien durchziehen seinen Roman; selbst die Episoden, in denen Fotos keine Rolle spielen, wirken wie festgefroren, sodass im Grunde auch sie sich als Bildbeschreibungen lesen lassen. Dann spielt noch ein altes Fotoalbum eine große Rolle. Die Postkartenidee ist also nicht einfach spurlos verschwunden. Sie ist eingewoben in einen größeren Konstruktionszusammenhang: Man tut gar nicht schlecht daran, das Buch als Variation über das Betrachten historischer Alltagsfotos im Allgemeinen und Familienaufnahmen im Besonderen zu begreifen. Ein (nicht ganz so) kurzer Roman über das Fotogucken. Im speziellen Fall unserer Geschichte führen solche alten Fotos sehr schnell zu Kriegs- und Nachkriegsszenen. So ist es auch, als der Ich-Erzähler zusammen mit seinem Cousin Carl und seinen Cousinen Paulina und Nora – Beyers erzählerische Fantasie setzt an konkreten Details wie diesen Namen an – hinten im Bücherschrank auf das Fotoalbum der Großeltern stößt. Die Fotos zeigen junge Männer im Schnee, auf Ausflügen, in einem Kasernenhof. Immer tragen die jungen Männer Uniform (auf den Schneebildern nur durch die Abzeichen zu erkennen), und immer befindet sich ein ganz bestimmter junger Mann darunter: der Großvater.

Vier Jugendliche hocken in der „Couchecke“, schauen einen „querformatigen, schwarzen Band aus starkem Karton“ an und brüten über alten Familien- und Kriegsgeschichten. In dieser Szene, die sich in Wirklichkeit während der vergangenen Jahrzehnte so ähnlich in unzähligen spießigen deutschen Wohnzimmern abgespielt haben dürfte, entdecken die Jugendlichen, dass Fotografien nicht nur Geschichten erzählen, sondern auch verfälschen und verdecken können. (Der DuMont-Verlag hat das bei der Gestaltung der Innenseite des Schutzumschlags gleich selbst demonstriert; dort sind historische Aufnahmen abgebildet, manche mit gezackten Rändern, so wie die Jugendlichen sie finden, und mittendrin sieht man den Autor Marcel Beyer.)

Beim Großvater dokumentieren die Fotos viele Einzelheiten exakt: „Über die Jahre erhöht sich die Zahl der Abzeichen und Orden auf seiner Brust. Wären die Bilder durcheinander geraten, könnten wir sie in die richtige Reihefolge bringen, allein anhand der Auszeichnungen, dem polierten minderwertigen Metall, das Sonne und Magnesiumlicht reflektiert.“ Es gibt aber auch Lücken, offensichtlich wieder herausgetrennte Bilder und vor allem: Es fehlen jegliche Einzelaufnahmen von der Großmutter, nur immer auf Gruppenfotos ist sie mehr schlecht als recht zu erkennen.

Hat die zweite Frau des Großvaters sie etwa nachträglich aus dem Familienalbum verbannt? Und warum ist auf einem anderen Bild, aufgenommen offenbar in einer ausgebombten Wohnung, ein Modellflugzeug zu sehen, das an einer Stehlampe hängt? Über solche Fragen entwickelt sich der Roman. Es wird in der Folge zu gleichsam detektivischen Szenen kommen, in denen die, wie es an einer Stelle heißt, „geheime Geschichte unseres Großvaters“ enthüllt wird (er war als Mitglied der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg dabei). Es kommt zu Szenen, in denen der Erzähler offenbar auch Episoden und Zusammenhänge erfindet, wie sie hätten stattfinden können (vor allem, was das Schweigen des Großvaters nach Kriegsende und das Verhältnis seiner beiden Frauen betrifft; nach der deutlichsten von mehreren möglichen Lesarten war die erste Ehefrau Opernsängerin, starb dann an Krebs, und die zweite unterband jegliche Erinnerung an sie). Und immer wieder gibt es Reflexionen über das Verhältnis von Erinnerungen, Bildern und Sprache. Bis der Erzähler dann gegen Ende verkünden kann, es sei nun „ein erfundenes Familienalbum“ entstanden, dieser Roman nämlich: „Eine Sammlung ausgedachter Bilder, auf denen man verzerrte Gesichter und Altersflecken, sogar an manchen Stellen Geister sieht.“

Eine Spurensuche, ein Spurenerfinden, bei dessen Lektüre man sich immer wieder dabei ertappt, höllisch aufzupassen, damit einem nur ja keine Querverbindung und keine Anspielung entgeht. Kein ganz leichtes Unterfangen. Zum Beispiel wird das Foto mit dem Modellflugzeug auf Seite 35 beschrieben und auf Seite 258 erklärt, da liegt ziemlich viel Lesezeit dazwischen. Und wenn gegen Ende die tot geglaubte Großmutter (vielleicht) wieder auftritt, dann hat uns der Erzähler schon auf Seite 83 darauf vorbereitet: „Wer Tote wecken oder Lebende verschwinden lassen will, braucht nichts anderes als Worte.“ Wahre und ausgedachte Erinnerungen sind eben von ihrer reinen sprachlichen Gestalt her nicht einfach auseinander zu halten. Und mehr noch: Wer sagt uns, dass tatsächliche Erinnerungen und bloße Erzählungen nicht denselben dramaturgischen Gesetzen gehorchen?

Dass es bei diesem Autor zu komplizierten literarischen Strategien und Reflexionen aufs erzählerische Material kommt, war zu erwarten. Der neue Roman steht seinen Vorgängern „Das Menschenfleisch“ und „Flughunde“ in ihrem prekären Sprachbewusstsein in nichts nach. Man kann die These wagen, dass es bei der Entwicklung des mittlerweile 35-jährigen Autors um Verfeinerungen geht, nicht um stets radikale Neuansätze. Die Zitiertechniken werden gleitender, das Collagierte des Textes verschwindet nicht, tritt aber in den Hintergrund, der eindeutige Plot, den etwa „Flughunde“ hatte, wird in das Sprachspiel mit hineingezogen, das Ausstellen des theoretischen Backgrounds wird dezenter. Thomas E. Schmidt hat Marcel Beyer in dem in diesem Frühjahr erschienenen Porträtsammelband „aufgerissen“, ganz als Kind der poststrukturalistischen Theorien der 80er-Jahre beschrieben. Vom neuen Roman aus will einem das Porträt, ohne dass es falsch erschiene, ein wenig forciert vorkommen. Es zeichnet sich, so ließe sich nun der Akzent umsetzen, ein Schreibprogramm ab, das um Normalität kreist, in dem es darum geht herauszukriegen, mit welchen Bauplänen und welchen Störungen unsere Normalität konstruiert ist. Die in Fülle vorhandenen theoretischen Aspekte – nach der „Spione“-Lektüre ist ein gewisser Drang zu verzeichnen, sich über Visualität, mediale Realitätskonstruktion und mehr zu unterhalten – sind hier immer schon praktisch geworden. Was könnte konkreter sein als die Bilder und Bildstörungen, die Erinnerungen und Erinnerungslücken, die auch die zweite Nachkriegsgeneration in diesem Land hat oder zu haben meint? Genau darum geht es hier.

Dabei interessiert sich Marcel Beyer nicht nur für die Erinnerungen und ihre Bilder, sondern gleichsam auch für die Hard Facts: Wie werden die Bilder aufgenommen, wie werden sie tradiert, und was passiert mit ihnen, wenn sie weitergegeben werden? Es ist auch die mediale Hardware, an der der Erzähler verdeutlicht, dass in der Familie der Jugendlichen die kommunikative Störung längst zum Normalfall geworden ist. Der Großvater durfte sein Geheimnis lange Zeit nicht einmal seiner Verlobten mitteilen. Nach dem Krieg musste wieder ein Geheimnis daraus werden. Bei den Jugendlichen ist das als System von Verdächtigungen, Vermutungen und Schweigen angekommen: Telefone, die vergeblich klingeln, und Menschen, die neben klingelnden Telefonen stehen und doch nicht zum Hörer greifen, nehmen einen breiten Raum in diesem Roman ein (im Hintergrund läuft auch eine Spur, die den Terrorismus mit solchen Kommunikationsstörungen in Verbindung bringt, aber das bleibt ganz dezent). In solchen Szenen bürstet Marcel Beyer sehr stark den historischen Edelrost ab. „Spione“ ist alles andere als ein historischer Roman.

Es gibt auch Dinge, die fehlen. Humor etwa scheint in das Arsenal der Beyer’schen Schreibtechniken nicht zu passen. Und zumindest einmal, so will mir scheinen, hat sich Marcel Beyer in einem Bild vergriffen: bei dem riesigen Pilz, der, „ein einziger Organismus“, sich über einen ganzen Hügel ausdehnen muss – allzu deutlich ein Symbol für die untergründigen kommunikativen Verbindungen der Figuren. Alle gefangen im Geflecht aus Bildern, Wörtern und Geschichten. Hier landet der Roman für meinen Geschmack zu sehr im Ungefähren.

Doch brauchen solche Einwände die Bewunderung für diesen Roman nicht zu trüben. Wichtiges Buch, sagt man in solchen Fällen gerne. Warum das nicht einfach so stehen lassen.

Marcel Beyer: „Spione“. DuMont Verlag, Köln 2000. 308 Seiten, 39,80 DM

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