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Archiv-Artikel

Ein Wort für die Wellt

Mitten in der Alexianer-Fachklinik für psychisch und geistig behinderte Menschen in Münster liegt das Kunsthaus Kannen. Dort zeigen belgische, deutsche und italienische Künstler ihre Schreibbilder

VON PETER ORTMANN

Vincenzo Sciandra hortet in seiner Hosentasche Dutzende von Personalausweisen. Die Kopien sind ordentlich gefaltet, zu einem Bündel gepackt und mit Klebeband eingebunden. Sciandra dokumentiert Anarchie mit seinen Personaldaten: Der Italiener ist in einer Gegenwelt Doktor Vincenco, Vincenzo Viniguerra, aber auch Michele Strogoff, Sandro Dostojewski oder Giorgio Ford. Er hat seine Ausweise über und über mit Schriftzeichen bedeckt, die Nummerierungen verändert, nur das amtliche Republica Italiana blieb erhalten. Vincenzo Sciandra ist eben Künstler.

Einige seiner Alias-Dokumente hängen jetzt gerahmt im Kunsthaus Kannen in Münster. Das liegt mitten im Klinikkomplex der Alexianer-Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Im behindertengerechten Neubau finden sich Ateliers, Werkstätten und ein riesiger Ausstellungssaal, in dem neben einem Museum für Art brut und Outsider Art auch Wechselausstellungen stattfinden können. Eröffnet wurde gerade die Ausstellung „Schreibbilder“, eine belgisch-deutsche Kooperation, in der Werke von 13 belgischen, deutschen und italienischen Künstlern gezeigt werden, die mit Schrift als visuellem oder literarischem Ausdrucksmittel arbeiten. Oder mit beidem. So entsteht echte Poesie aus einer Welt, die den so genannten Normalen immer verborgen bleibt.

Vincenzo Sciandra (55) lebt seit 1983 im psychiatrischen Rehabilitationszentrum Fatebenefratelli in Mailand. Über seine Kindheit ist wenig bekannt, aber immer schon hatte er das Bedürfnis zu schreiben und wenn es – mangels Material – mit seinem eigenen Blut war. Seit er vor zehn Jahren das Malatelier in San Colombano besuchen konnte, haben Aquarelle die Personalausweise ersetzt, die Beschriftung ist natürlich geblieben.

Der Belgier Michel Dave arbeitet ausschließlich schreibend. Wenn er im Atelier von Bruno Gérard in La Pommeraie ankommt, benötigt er ein Blatt – das er am liebsten im Querformat bearbeitet–, drei Acrylstifte – grün, dunkel- und hellblau – und ein Larousse-Taschenwörterbuch – wegen der Rechtschreibung. Leider findet er dort nicht immer die Wörter, die ihm durch den Kopf gehen. Aber dann hat er sich für eine Farbe entschieden und fängt links oben den ersten Satz an: Das . Geschriebene . ist . gelöscht . Die Aussage bekommt einen andersfarbige Umrahmung. Es folgt Satz auf Satz, bis das Blatt restlos mit so etwas wie Sprechblasen gefüllt ist – ihre Reihung sieht oft aus, als seien Münzen für einen Geldautomaten gestapelt worden. Bei mehrfachem Lesen wird auch klar, dass die Sätze nicht zufällig gewählt wurden. Sie erzählen Geschichten von Michel Dave, seiner eigenen Welt und Alphabet.

Noch bis zum 10. April sind die Schriftbilder in Münster zu sehen. Darunter auch Arbeiten von einem Preisträger. Robert Burda (62) stammt aus Neuburg an der Donau und lebt bereits seit 1968 im Wohnbereich des Alexianer-Krankenhauses. Er erhielt im letzten Jahr den Europäischen Kunstpreis für Malerei und Grafik von Künstlern mit geistiger Behinderung. Burda beschriftet seine Alltagsgeschichten und surrealen technischen Zeichnungen mit Schönschrift. Wochentag, Datum und Ort der Szenerie werden so festgehalten.

An der Ausstellung „Im Rausch der Kunst – Jean Dubuffet und Art brut“ im Düsseldorfer Museum Kunstpalast wird wohl keiner der beteiligten Künstler teilnehmen. Hier treffen nächste Woche die 50 bekanntesten – und inzwischen fast unbezahlbaren – Outsiderkünstler auf den Urvater der Kunstgeschichtsschublade. Dubuffet hatte die bereits 1947 kreiert – er sah in den Art brut-Werken Aussagen von Künstlern, die unberührt von kultureller Kunst und ihren Strömungen geblieben waren. Die Kunst in Rohform war auch Kritik an der damals institutionalisierten Strömung des Informellen. Bereits in den 1920 Jahren wurde die Kunstszene auf die Arbeiten von psychisch kranken Menschen aufmerksam. Der aus Hemer stammende Arzt Hans Prinzhorn hatte in seiner Heidelberger Klinik mit dem systematischen Sammeln begonnen und 1922 das Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ geschrieben, durch das auch Dubuffet mit dem Thema in Berührung kam.

Kunsthaus Kannen, Münsterbis 10. April 2005Infos: 02501-966560