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Archiv-Artikel

Ein Vogeldreck

Im Radio soll jetzt das Volkslied gefördert werden. Das klingt doch arg romantisch und fügt sich zu einer seltsamen Idylle. Eine Polemik

von Erich Schmeckenbecher

Das Volk soll wieder singen. Und zwar Volkslieder. Die richtigen, versteht sich, nicht die falschen. Und auch, wie es singt, muss bedacht werden. Deshalb hat der Südwestrundfunk (SWR) die Initiative ergriffen und stellt ein ganzes Jahr lang, jeden Freitag, ein neues Volkslied vor.

Dadurch, so die SWR2-Musikchefin Dorothea Enderle, soll sich in Zukunft vieles ändern. Sie will die Geschichte hinter den Volksliedern zeigen und was sie für uns bedeuten können. Damit das voll durchschlägt, sei das Projekt „sehr groß aufgestellt“, auch mit „sehr vielen Zeitungen als Partner“. Die Idee muss ein Opernsänger aus Stuttgart gehabt haben. Cornelius Hauptmann, so schreibt jedenfalls Zeit online, erzählt ergriffen von einem ausverkauften Wiegenlieder-Abend in der Stuttgarter Oper, bei dem 1.200 Menschen gemeinsam gesungen und, ja, auch geweint haben. Und weiter: Das schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl. So etwas suchen die Leute zurzeit offenbar.

Aber Frau Enderle will auch etwas gutmachen an der „unglaublich geschundenen Gattung“, sagt sie. Sowohl das Radio als auch das Fernsehen habe aus dem Volkslied „etwas Verkitschtes, Schlagerartiges“ gemacht.

So was muss man sich erst mal trauen: Jahrzehntelang betreiben Leute wie Enderle und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten den Untergang des Volksliedes dadurch, dass sie zum Beispiel nicht die 48er Lieder von Hein & Oss Kröher spielen, nicht die Arbeiterlieder von Hannes Wader, sondern dass sie volkstümlichen Murks senden. Und jetzt wollen sie das Volkslied dadurch retten, dass sie es von OpernsängerInnen und Chören vortragen lassen und den HausmusikantInnen die entsprechenden Materialien dazu gleich noch absatzfördernd zur Verfügung stellen.

Und SWR-Moderator Thomas Ihm macht sogar eine Entdeckung: „Die Romantik, die die Wiege des deutschen Volksliedes war, war auch gleichzeitig die Wiege der Demokratie.“ Stimmt, allerdings sind für den guten Moderator nur diese romantischen Volkslieder die typisch deutschen, und das stimmt nicht. Denn die Romantik war nicht die Verklärung des Wirklichen zum ausschließlich Schönen. Hier wird die Romantik mit der heutigen Idylle verwechselt, wie das in konservativen und profitorientierten Kreisen, also bei den sogenannten Brotgelehrten (Schiller) allzugern getan wird. Idylle lässt sich halt besser verkaufen, philosophisch wie praktisch.

Zur Erklärung: Schiller prägte den Begriff des Brotgelehrten 1789 in seiner Antrittsrede als Geschichtsprofessor in Jena. Brotgelehrte sind für ihn Wissenschaftler, die nicht für die Wissenschaft leben, sondern von ihr leben wollen. Es geht ihnen nur um Fürstengunst, Zeitungslob und ihren Marktwert. Schiller war durchaus Romantiker, und Männer wie Hecker, Fallersleben, Freiligrath, Heine, Hölderlin, Hegel, Marx und viele andere waren es auch, nicht nur Eichendorff, Claudius und Co. Und der Romantiker Hecker und andere 48er mussten, weil sie Demokraten waren, sogar um ihr Leben fürchten.

Lieder deutscher Demokraten ganz hinterfotzig diffamiert

Aber um diesen Bereich des deutschen Volksliedes macht SWR2 einen weiten Bogen. Und zwar ziemlich raffiniert: Die Volkslieder der Nazis werden abgelehnt. Zu Recht. Die Volkslieder der DDR werden in den gleichen totalitären Pott geschmissen. Zu Unrecht. Und die Lieder deutscher Demokraten werden dadurch diffamiert, dass man willkürlich eines davon hernimmt und als typisches und abschreckendes Beispiel zitiert. Moderator Thomas Ihm macht das geradezu hinterfotzig: „Heckerlied. Schmiert die Guillotine mit Tyrannenfett, schmeißt die Konkubine aus dem Pfaffenbett. Das sind doch kräftige Volkslieder, die kann man doch mal singen?“

Klar kann man die singen – bis man einen sogenannten seriösen Musiktätigen, hier Direktor Mettler vom Badischen Chorverband, fragt. Der lehnt das Heckerlied selbstverständlich ab: „Ja nun. Die sind natürlich weitab vom Schuss. Da wird sich jeder Christ mit Grausen abwenden, und da sind natürlich kirchliche und religiöse Bedenken da.“

Zur Erinnerung: Friedrich Hecker schrieb am 5. März 1848: „Ich will die Freiheit für alle, gleichviel in welcher Staatsform sie zu erreichen ist. Aber keine Freiheit nur für die Privilegierten oder für die Reichen; ich bin, wenn ich es mit einem Wort benennen soll, Sozialdemokrat.“ Weitab vom Schuss? Religiöse Bedenken? Da lach ich aber.

Und was meint Dorothea Enderle eigentlich, wenn sie zeigen will, welch interessante Geschichte Volkslieder haben und was sie für uns bedeuten können?

Nehmen wir das Lied „Wenn ich ein Vöglein wär“. Der Text, berichtet Wibke Gerking vom SWR, sei von Herder. Dem ist schon mal nicht so. Der Text steht zwar unter Herders „Volksliedern“ aus dem Jahre 1778 in der heutigen dreistrophigen Form, und dies wird als der erste Druck des Liedes bezeichnet. Tatsächlich aber findet man ihn schon 1756 mit fünf Strophen auf einer Flugschrift mit dem Titel „Vier Weltliche schöne Lieder“. Herder als Urheber passt jedoch besser in den Kram, den Moderator Thomas Ihm wie folgt erläutert:

„Dieses Volkslied […] ist so wie viele ein Werk von Akademikern, wie überhaupt die ganze Gattung des Volksliedes in gewisser Weise von Akademikern erfunden wurde. Allen voran der Dichter Johann Gottfried Herder, der im 18. Jahrhundert lebte. Damit ist das typisch deutsche Volkslied weder volkstümlich noch völkisch, sondern, zugespitzt gesagt, der Gesang von Dichtern und Denkern.“

Gott sei Dank, zugespitzt gesagt. Es ist besser, dass nicht wenige Volkslieder von Dichtern und Denkern sind, längst verstorbenen, versteht sich, als von volkstümlichen Heinis und völkischen Heinos. Aber Vorsicht: Dichter und Denker, besonders die heutigen, sind subversiv. Sogar so ein harmlos daherkommender Text wie „Wenn ich ein Vöglein wär“ ist in Wahrheit, SWR-Frau Gerking hat es herausgefunden, ein Antikriegslied.

Donner und Doria! Ich hatte es schlicht für ein schönes Liebeslied von Handwerksburschen gehalten, das allerdings in den 70ern häufig mit einem leicht veränderten Text gesungen wurde: „Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt, flög ich zu Dir. Weil's aber nicht sein kann: vögle ich hier.“

Sicher, der Originaltext gefällt mir auch besser, selbst wenn die Änderung den Nagel auf den Kopf trifft. Aber die damaligen Zeiten waren unfrei, in den 70ern des vorigen Jahrhunderts waren sie schon etwas freier. Allerdings ist in dem Lied nichts von einer Antikriegshaltung drin. Da gibt es ganz andere, klare, unverschlüsselte. Und jetzt: Alle mitsingen!

Selbstlos und edel arbeiten über 100 KünstlerInnen mit, um dieses Projekt zu unterstützen. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Reputation keineswegs darunter leidet, dass man mal wieder im Radio war und in der Zeitung stand, ist es doch wirklich schön, dass es immer noch Leute gibt, die das deutsche Volkslied retten wollen. Auf den Tonträgern findet man als „Anreger“ zum Nachsingen zu 98 Prozent KünstlerInnen aus den Bereich der sogenannten E-Musik, also OpernsängerInnen, Vokalensembles, Chöre et cetera. Da wird hauptsächlich am Klavier, aber auch zur Gitarre im feinsten Belcanto um die Wette geknödelt. Was soll der Quatsch? Warum müssen OpernsängerInnen auch Volkslieder singen? Ich singe ja schließlich auch keine Opern.

Künstlich und gestelzt, kreuzbieder und langweilig

Mir drängt sich die Frage auf, ob die Verantwortlichen Drogen nehmen, wenn sie glauben, dass man mit so einem Angebot die Leute, vor allem die jungen Leute dazu bringen kann, wieder Volkslieder zu singen. So künstlich und gestelzt, kreuzbieder und langweilig habe ich das arme und geschundene Volkslied lange nicht mehr gehört. Und wenn ich mir die Frage nach der Droge selbst beantworte, dann kann es nur die Droge der Heuchelei sein, mit deren Hilfe das Singen von „wahren Volksliedern“ insbesondere den jungen DemokratInnen einmal mehr ausgetrieben werden soll, denn auch die real existierende Demokratie geht noch viel demokratischer.

So weit wird es aber nicht kommen, wenn ein Chor den „Lindenbaum“ singt oder „In einem kühlen Grunde“, das mehr wie das klingende Chormuseum als wie ein lebendiges Volkslied aus der Mitte des Volkes heraus klingt.

Und noch ein Gedanke sei zum Abschluss erlaubt: Wenn das typisch deutsche Volkslied der Gesang von Dichtern und Denkern ist, wo ist dann der Gesang dieser Dichter und Denker heute? Oder gilt die fast senile Auffassung, dass ein Volkslied mindestens 50 Jahre alt sein muss und sein Dichter und Denker am besten schon tot? Bleibt zu hoffen, dass in Baden-Württemberg nach der Wahl bald ein anderer Wind weht, zum Beispiel einer, der sich aus einem kühlen Grunde aufmacht und den falschen VolksliedretterInnen die eigene Vögleinscheiße um die Ohren fetzt.

Erich Schmeckenbecher (58) war früher mit Thomas Friz Zupfgeigenhansel. Das erfolgreiche Folkduo hat über eine Million Tonträger verkauft und mit dem Liederbuch „Es wollt' ein Bauer früh aufstehn“ einen Klassiker vorgelegt. Schmeckenbecher ist heute solo unterwegs. Mehr zum „Volkslied der Woche“ auf www.liederprojekt.org