: Ein Sitz mit Sprengkraft
DEMOKRATEN 51,9 Prozent konnte Scott Brown für sich verbuchen. Obamas stabile Parlamentsmehrheit ist damit zunichtegemacht
■ Senat: Bei 100 Senatoren, von denen jeweils 2 in einem der 50 Bundesstaaten gewählt werden, würden 51 Stimmen genügen, um ein Gesetzentwurf durch die zweite Kammer des Kongresses zu bringen. Im Zweifelsfall würden der Partei des regierenden Präsidenten sogar 50 Stimmen reichen. Denn bei einem Patt entscheidet die Stimme des Senatspräsidenten – und das ist Obamas Vizepräsident Joe Biden. Diese Mehrheit wird von den Demokraten derzeit sogar übertroffen. Gemeinsam mit zwei unabhängigen Senatoren verfügen sie über 59 Stimmen.
■ Filibuster: Die qualifizierte Mehrheit ist nur für die Tagesordnung relevant. In der Geschäftsordnung des Senats ist sie festgeschrieben, um eine endlose Parlamentsdebatte der Minderheit, den sogenannten Filibuster, zu beenden. Denn anders als im Bundestag hat jeder Senator und jede Senatorin unbegrenzte Redezeit. Auch wenn es Reden gab, die sich über einen Tag hinzogen, wird seit Jahren die Androhung des Filibusters durch 41 Senatoren als Sperrminorität zur Aufschiebung einer Entscheidung betrachtet.
■ Wahlen: Im November finden Kongresswahlen statt, sämtliche 435 Abgeordnete des Repräsentantenhauses und ein Drittel der Mitglieder des Senats müssen um ihren Wiedereinzug zittern. (ec)
AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN
Es ist ein empfindlicher Schlag für die Gesundheitsreform in den USA und eine Ohrfeige für Präsident Barack Obama: Bei den Senatsnachwahlen in Massachusetts hat der bislang kaum bekannte Kandidat der Republikaner, Scott Brown, am Dienstag mit 51,9 Prozent gegen die Demokratin Martha Coakley gewonnen. In dem kleinen Bundesstaat im Norden der USA verlieren die Demokraten damit einerseits einen Sitz, der ihnen ein halbes Jahrhundert lang als „sicher“ galt. Und auf der nationalen Ebene verlieren sie zugleich die stabile Parlamentsmehrheit, die sie für komplizierte Projekte wie die Gesundheitsreform brauchen. Nötig geworden waren die Nachwahlen durch den Tod von Edward Kennedy im vergangenen Sommer. Er war seit dem Beginn der Präsidentschaftskampagne eine der ganz großen moralischen Stützen von Obama gewesen.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Amtsantritt im Weißen Haus ändert das Wahlergebnis von Massachusetts die Situation von Präsident Obama radikal. Der Bundesstaat nördlich von New York, in dem nur 6 Millionen Menschen leben, hat damit die Nachwahl genutzt, um die große Politik für Millionen von US-Amerikanern zu verändern. Insbesondere die Gesundheitsreform könnte dem Votum aus Massachusetts zum Opfer fallen. Fortan ist nicht mehr sicher, ob – und in welcher Form – sie je durchkommen wird. Die Demokraten verfügen seit ihrer Niederlage in Massachusetts nicht mehr über die Mehrheit von 60 zu 40, mit der sie notfalls auch umstrittene Projekte zügig durchsetzen konnten. Stattdessen müssen sie künftig mit „nur“ noch 59 Stimmen auskommen. Nach den Gouverneurswahlen in New Jersey und Virginia ist die Senatsnachwahl in Massachusetts die dritte schlechte Nachricht für Obama.
Für die Republikaner, die in den vergangenen Wochen ihre sogenannten Tea Parties gegen Obama und ihre Angstkampagne gegen die Gesundheitsreform verstärkt haben, bedeutet das Ergebnis der Wahlen in Massachusetts unerwartet schnelle Rückenstärkung. Noch vor wenigen Wochen hätte kaum jemand in den USA an einen Sieg der Republikaner bei den Nachwahlen geglaubt. Am allerwenigsten die demokratische Kandidatin, Staatsanwältin Martha Coakley. Noch Weihnachten erschien ihr der eigene Wahlsieg als so sicher, dass sie kaum Kampagne machte. Zugleich verstärkten die Republikaner ihren Widerstand gegen die Gesundheitsreform, wobei sie vor allem auf Ängste bauten: auf die Angst vor „zu viel Staat“, auf die Angst von Versicherten, dass sie künftig höhere Beiträge zahlen müssten, um bislang nicht Versicherte zu versorgen, und auf die Angst älterer BürgerInnen, denen sie suggerierten, dass ihre Gesundheitsversorgung gefährdet würde.
In den USA sind gegenwärtig rund 46 Millionen Menschen nicht krankenversichert. Nach der Reform müssten alle eine Versicherung abschließen: Der Staat hilft dabei Bürgern mit geringem Einkommen, Versicherungsfirmen dürfen Kranke in Zukunft nicht länger diskriminieren. Das Reformpaket enthält auch Kostenkontrollmaßnahmen für die Pharma- und Gesundheitsindustrie.
Neben älteren Wählern überzeugten die Republikaner auch viele Bewohner der Vorstädte und der ländlichen Gegenden von Massachusetts. In den Städten freilich, insbesondere in der Universitätsstadt Boston, blieben die Demokraten stark.
In den letzten Tagen vor dem Urnengang in Massachusetts war die Popularitätskurve des Republikaners Scott Brown so steil angestiegen, dass sich am Wochenende Präsident Obama persönlich mit einer Unterstützungserklärung für die demokratische Kandidatin Oakley einschaltete. Doch sein präsidiales Wort verhallte erfolglos. Am Dienstagabend, kurz nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses, war Obama wieder am Telefon: als einer der ersten, der dem Republikaner Scott Brown telefonisch gratulierte. Er habe einen „guten Wahlkampf“ gemacht und seinen Sieg „hart erkämpft“, lobte der Präsident den frisch gewählten republikanischen Senator, der ihn künftig um seine stabile Mehrheit bringen wird. Auch die unterlegene Demokratin von Massachusetts erhielt einen Anruf von Obama. Darin hat der Präsident sie vor allem getröstet. „Wir können nicht überall gewinnen“, sagte Obama zu Coakley.