: Ein Recht auf Kalorien Von Andrea Böhm
Es gibt Geschichten, die sind so makaber, daß man kaum noch die angemessenen Worte findet, um sie zu erzählen. Daß der Mensch in der Regel an seinem Leben hängt, ist eine ebenso wahre wie banale Feststellung. Doch im Fall von Mitchell Rupe wird sie unweigerlich zum Zynismus, weil eine ganze Reihe Leute sein Leben gern durch den Strang beenden würden. Allen voran die Generalstaatsanwältin des Bundesstaates Washington, in dem Rupe wegen zweifachen Mordes 1981 zum Tode verurteilt worden ist.
Die Todesstrafe wird in 38 Bundesstaaten der USA vollstreckt. Ein Ende dieser Praxis ist nicht in Sicht, zumal eine neue „Law and order“-Welle gerade durch den amerikanischen Wahlkampf schwappt und Gouverneure, die um ihre Wiederwahl fürchten, mit der Zahl der unterzeichneten Hinrichtungsbefehle prahlen. Da auch die Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten für die zum Tode Verurteilten immer weiter eingeschränkt werden, sind die Überlebenschancen der Betroffenen zunehmend kleiner geworden. Damit sie wenigstens bei der Art ihres Todes noch mitreden dürfen, stellen mehrere Bundesstaaten zwei Hinrichtungsformen zur Auswahl. In Washington darf der Delinquent zwischen dem Galgen und der Todesspritze wählen. Verweigert er – wie Mitchell Rupe – diese Art der Kooperation, wird automatisch der Tod durch den Strang als Exekutionsform festgesetzt.
Um dem Galgen zu entgehen, hat Mitchell Rupe einen ebenso genialen wie grotesken Fluchtweg gefunden: Essen. Mit Hilfe von Schokolade und Kartoffelchips aus dem Knastkiosk und unter disziplinierter Vermeidung jeglicher körperlicher Betätigung im Kraftraum des Todestraktes hat er sein Gewicht auf 185 Kilogramm gesteigert – und einen Bundesrichter davon überzeugt, daß der Tod durch Erhängen in seinem Fall unweigerlich zu einem Tod durch Enthaupten würde. Das wiederum gilt in den USA als „grausame und ungewöhnliche Bestrafung“ und ist folglich unvereinbar mit dem achten Zusatzartikel zur US-Verfassung.
Solche Entscheidungen finden bei Befürwortern der Todesstrafe – die in den USA die große Mehrheit stellen – wenig Gegenliebe. Höchst unwirsch wirft man dem Delinquenten vor, sich mit einem gemeinen Trick, besagten Kalorienbomben, den Weg aus der Todeszelle zu bahnen – als wäre der mit der Verhängung des Urteils stillschweigend die Verpflichtung eingegangen, bei seiner eigenen Exekution widerspruchslos mitzuwirken. Besonders verdrossen ist natürlich die Staatsanwältin in Washington, hat sie doch stundenlang darüber gebrütet, wie das Henkerseil beschaffen sein muß, um den Verurteilten ganz ungrausam und verfassungskonform zu strangulieren. Falls der Kopf trotzdem vom Rumpf getrennt würde, dann sei Rupe ohnehin schon bewußtlos. Einen Bewußtlosen zu enthaupten ist nach Auffassung der Staatsanwaltschaft mit der US-Verfassung durchaus zu vereinbaren.
Eine Jury muß nun erneut entscheiden, welche Strafe gegen Mitchell Rupe verhängt werden soll. Fest steht bislang nur, daß die Gefängnisverwaltung Rupe nicht auf Diät setzen kann. Das würde sein verbrieftes Recht verletzten, jede Woche bis zu 100 Dollar im Knastkiosk auszugeben. Hey. It's a free country.
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