Ein Plädoyer für das Konkrete: Sind Utopien was für Faule?

Die ideale Gesellschaft der Zukunft zu erträumen hilft der Klimabewegung nicht dabei, realistische Maßnahmen im Hier und Jetzt durchzusetzen. Es kann ihr sogar schaden, glaubt Jan Feddersen.

Utopien operieren im Niemandsland Foto: Philotheus Nisch

Von JAN FEDDERSEN

Keine Ahnung, wann mir dieses Wort das erste Mal in die Ohren sickerte: Utopie. Wahrscheinlich war es 1974, in der Oberstufe, der Lehrer für das Fach Soziologie empfahl uns zur Lektüre das Buch eines Autors, der öffentlich schon viel Wirbel gemacht hatte, aber mehr bei den Erwachsenen. Jugendlichen war er kaum ein Begriff, weil viel zu seriös, also uncool aussehend: Ralf Dahrendorf, ein bekennender Liberaler (und späterer Lord des britischen Oberhauses, das Gegenteil eines Berufsoppositionellen), prominent in seiner Zeit, ein Mann, der sich Ende der 1960er-Jahre furchtlos dem linksradikalen Furor der 68er-Bewegung aussetzte, indem er etwa, auf einem Auto sitzend, open air mit dem Studentenoberhaupt Rudi Dutschke diskutierte. Also gut: Wenn der Lehrer sagt, Pfade aus Utopia sei eine Schrift, gegen die man sich zu wappnen habe, dann war das verführerisch, im Übrigen auch notenrelevant.

Das Buch war echt interessant – und zugleich ernüchternd. Der Autor, der die Soziologie, das Paradefach für Tausende von Studierenden in jener Ära, von deutschem Muff mit erlöste, indem er einfach gesellschaftliche Wirklichkeiten (nicht Träume, also ferne Wünschbarkeiten!) aufbereitete und etwa die Bildungsexpansion zugunsten aller beförderte, formulierte für das Naheliegende. Für Reformen, für die Politik der kleinen Schritte und für die kühle Analyse gesellschaftlicher Interessenlagen. Nicht jedoch für Überschwang, für ein »Alles wollen wir, was der Himmel uns zeigt – und das jetzt, sofort und auf der Stelle«.

Dahrendorfs Schriften sind immer noch gut lesbar. Und zwar, weil sie sich eignen, um der politischen Bewegung gegen die Erderwärmung die Atmosphäre des Utopischen auszutreiben: Des Soziologen Plädoyer setzte ja auf Pfade aus Utopia, nicht ins utopische Denken (und Fantasieren) hinein. Aus dem utopischen Denken hinausfinden: Das ist die wahre Herausforderung für alle Klimaschützer*innen, befinden sie sich in der Lausitz, in Lützi, im Hambi oder im Fechi – die politische Erotisierung besser: Kinderzimmerisierung symbolischer Orte der Klimaschädigung führt ins politische Nichts. Vielmehr dient sie der Selbsttrunkenheit des Aktivismus, der sich moralisch im Recht weiß – und politisch sowieso, aber keine Mehrheiten zu erreichen vermag.

Die Selbstliebe zum Tagesschau-fähigen Protest war immer falsch, besser: Das ist ein Trugschluss. Seit den ersten Tagen der Arbeiterbewegung werden alle sozialen oder kulturellen, inzwischen: ökologischen Bewegungen von einem Überschuss an Selbstbewusstsein als utopische Lichtgestalterei geflutet. Utopie? Toll, super, ja, denken wir uns aus. Eine Welt ohne Flugzeuge, ohne tierische Nahrung, ohne individuelle Mobilität oder ohne soziale Ungerechtigkeit. Jetzt, sofort, weil es bestimmt machbar ist. Weil die Meinungsumfragen gerade so ausfielen – dass die Menschen dafür sind. Oder eben auch nicht, Demoskopisches ist fluider als alle Geschlechter, und bei Wahlen kämen Utopist*innen nie auch nur über eine 0,5-Prozent-Sperrklausel. Utopien sind was für Sonntagsreden, für Predigten von der Kanzel (in hohen Bäumen, auch von diesen), aber nicht für das wahre Leben.

Utopien haben für das wahre Leben nichts zu bieten

Utopien, linke zumal, sind gelegentlich wirklich zur politischen Reife gelangt. Das war dann das Regime Pol Pots in Kambodscha oder das Mao Zedongs in China, das war, mal von rechts geguckt, das Regime der deutschen Nationalsozialisten. Die einen träumten (ja, sie träumten, immer übrigens mit Waffengewalt) von der Auslöschung der Kapitalisten, die anderen von der Belehrung der als rückständig fantasierten Bauern, Letztere vom Heil einer von Jüdinnen und Juden gereinigten deutschen, europäischen Welt.

Nein, Klima-Utopien haben nichts mit Nazis zu tun, aber auch sie spielen bei vielen insofern eine Rolle, als in den Klimabewegungen starke Momente von Selbstgerechtigkeit, von »Ich will alles und zwar sofort«, populär sind. Karge Zustimmung bekommen jene, die sagen: Lasst uns in Schritten die politische Sphäre fluten, nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei den anderen. Fordert nicht das Fernste, das Utopische, sondern das Naheliegende, die Verkehrswende in den Kommunen.

Und: Seid respektvoll auch mit politisch noch nicht Überzeugten. Ihnen zu sagen, dass sie Mist sind und Klimaschutz gar nicht wirklich wollen, führt nur dazu, dass sie in Opposition zu jenen gehen, die uns am nächsten sind: den Klimapolitiker*innen. Die Klimaschutzbewegung also muss die Allianz mit den Traditionalisten suchen, muss sie politisch verführen und sie davon überzeugen, dass die Klimatransformation mehr als nur sinnvoll ist, sie aber gebraucht werden. Politische Rechthaberei ist also das Gegenteil von politischer Nützlichkeit.

Ich bitte um Verzeihung, aber: Utopien sind was für Faule. Utopien sind nur gut für Leute, die sonst gedanklich nix zu bieten haben. Sie operieren im Niemandsland, eben in Utopia – dort, im Reich des fernen Geistes wird alles prämiert, nur hilft das der Klimakrisenpolitik kein bisschen weiter. Utopia ist das intellektuelle Imperium auch jener, die »Apokalypse now!« rufen und damit glauben, schon die halbe Miete kassiert zu haben. Im Gegenteil hat Apokalyptisches immer einen religiösen Kern. Wir glauben fromm und inbrünstig – aber Konkretes zu tun, die Schmutzarbeit der politischen Arbeit in den Institutionen, das überlassen wir den anderen.

Mit anderen Worten: Nehmen wir uns in acht vor den Sirenenklängen, die »Ich habe eine Utopie« anstimmen. Sie ignorieren, dass nicht der Beifall im Klimacamp uns weiterbringt, sondern ein »Wow!« auf einer Unternehmens- oder Gewerkschaftstagung von SPDCDUCSUFDP – und auch der Grünen. Machbarkeit zu skizzieren, sieht grau aus und riecht nach zäher Überzeugungsarbeit – nicht so schillernd wie die Entwürfe einer bunten Ökowelt von ganz und gar im Übermorgen. Letztere aber, soviel ist sicher, werden die Klimakrise weiter beschleunigen – denn sie haben nichts im wirklichen Leben zu bieten!

JAN FEDDERSEN ist Kurator des taz lab-Kongresses und Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz.

Dieser Beitrag ist im März 2023 in taz FUTURZWEI N°24 erschienen.

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