Ein Nachmittag mit einer alten Dame: Geld, was soll das sein?
Windeln, Taschentücher, Klopapier, alles ist aus Papier heutzutage. Nur das Geld nicht mehr. Wie das ausssah hat Isi, die sieben Währungswechsel mitgemacht hat, längst vergessen.
Die Gründerzeitvilla liegt in einer ruhigen Seitenstraße. Eine tätowierte junge Pflegerin öffnet die Haustür und führt uns durch den Aufenthaltsraum, in dem die Bewohner schweigend sitzen, zu Isis Zimmer. Wir haben sie lange nicht gesehen, inzwischen ist sie blind, fast taub und sehr schmal geworden. Sie sitzt bereits am Tisch und begrüßt uns auf ihre liebenswürdige Art. Wir loben das große Zimmer, das, trotz Nachtstuhl und Seniorenbett, durch Bücherregale und helles Mobiliar eine angenehm private Atmosphäre hat.
Neben der Tür steht auf hölzernem Sockel eine Bronzebüste der jungen Isi, sie ist von Hans von Breek (einem Bruder von Arno Brecker), an der Wand über ihrem Bett hängen schöne kleine Tierzeichnungen von Schäfer-Ast, schräg gegenüber zwei Nackte im Liebesspiel. Dominierend aber ist ein großes Gemälde von Bert Heller, es zeigt einen lässig lehnenden Henselmann, mit auf die Stirn geschobener Brille.
Das rechte Ohr ist mein gutes Ohr, sagt Isi, lächelt und probiert ein Stück vom mitgebrachten Apfelkuchen. Ihr wollt also über Geld mit mir reden? Was soll ich dazu sagen, Geld, was soll das sein?! Geld ist für mich vollkommen uninteressant. Ich brauche gar keins mehr. Irgendwann habe ich vergessen, wie das aussieht. Ich bin 94, hört mal, vergesst das nicht!
Gestern Abend habe ich überlegt, wie das Geld aussah. Eingefallen ist mir aber nur, dass unsere DDR-Münzen aus Aluminium waren. Da war ich beleidigt. Alles Blech! Ein blauer Hunderter ist auch vorüber gekommen in meinem Kopf, mit Karl-Marx-Porträt (sie lacht). D-Mark, Euro? Kenn ich nicht, nein. Und Josi nimmt auch kein Geld zum Einkaufen. Sie sagt, brauche ich nicht, ich habe ja meine Karte, was auch immer das heißt.
Also es ist mir unverständlich, das Leben jetzt! Sagt mal, ich brauche mal ein Taschentuch, dringend, drüben auf meinem Nachttisch müssen Papiertaschentücher liegen. Wir reichen ihr eines. Sie faltet es geschickt auseinander und sagt: Papier, alles Papier, die Taschentücher, die Windeln, die Servietten, die Tücher. Die Pfleger verwenden es zum Wischen und zum Aufsaugen. Ein Riesenverbrauch von Papier, aber überhaupt kein Papiergeld mehr. Alles wird unheimlich.
Wir sind hier acht Leute, einer ist irrer als der andere, und der andere weiß nicht, dass der eine irre ist, weil er selbst irre ist (lacht). Fragt mich jemand: Bleiben Sie lange hier? Ich sage: Könnte sein. Und Sie: Und Ihre Kinder sind auch hier im Hause? Ich sage: Ne, noch nicht. Meistens sagen sie nichts. Man hört gar nicht, ob noch jemand da ist. Einmal habe ich meine Tischnachbarin gefragt, was sie früher beruflich gemacht hat. Sie sagte nur: Swiggel. Ich musste mehrmals fragen, erst dann stellte sich heraus, sie meinte: Zwickel. Sie hat in einem Textilwerk Zwickel in Hosen genäht. Ich sagte, ich verstehe. Seitdem haben wir kein Wort mehr gewechselt.
Aber ihr wollt ja hören, wie es in meiner Kindheit und Jugend mit dem Geld war. Also ich bin, wie ihr wisst, 1915 geboren, ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges, in Schulpforta. Übrigens, ihr kennt ja das Eingangsgebäude. Direkt über dem Tor, in dem Erkerzimmer, dort wurde ich geboren. Das war zur Kaiserzeit. Anfangs liebten die Leute den Kaiser. Er war höflich und nett und er hatte einen schlimmen Arm, dadurch konnte er auch Verständnis aufbringen für die Leute, ja (sie lacht).
Aber mein Vater war Liberaler, nationalliberal. Er war als Prokurator von Schulpforta viel unterwegs. Die hatten ja umfangreiche Ländereien. Sieben Güter musste er betreuen beziehungsweise inspizieren. Deshalb war er als Staatsbeamter freigestellt vom Kriegsdienst, und er hatte ja auch kleine Kinder, mich und meine Schwester Karin. Ja, die, die später Havemann geheiratet hat, sie wurde ein Jahr nach mir geboren.
Meine Mutter war zwar zu Hause, sie hat sich aber nie sonderlich engagiert im Haushalt, sie war ja Malerin und hat es abgelehnt, einen Einweckapparat zu bedienen. Sie wollte auch nie früh aufstehen. Mein Vater hat sich dem gefügt, ja (sie lacht). Wir Kinder haben nichts weiter mitgekriegt vom Hungerwinter 17/18. Mein Vater war ja Jurist, der wäre lieber verhungert, als nebenher ein Stück Butter zu organisieren. Meine Mutter wurde spindeldürr und bekam einen Lungenspitzenkatarrh. Weil er sie hungern ließ, weil er so ehrlich war. Entsetzlich! Wir hatten natürlich Lebensmittelkarten, wie alle, aber daran erinnere ich mich nicht.
Erst viel später habe ich erfahren, so um 1919 - der Kaiser war im Exil und wir waren schon Republik - da gab es eine große Schulreform und irgendwie verlor Schulpforta seine Unabhängigkeit und seine Güter, ich weiß nicht, jedenfalls wurde mein Vater versetzt. Zuerst nach Magdeburg und bald darauf nach Kassel. Ich komme jetzt aufs Geld, denn das ist meine früheste Erinnerung.
Wir wohnten zur Miete in der sehr eleganten Kaiserstraße, am Kaiserplatz, im vierten Stock. Ich saß mit meinem Vater auf dem Balkon, es war Mai, glaube ich, und unten marschierten Demonstranten. Sie schoben solche Drahtwagen vor sich her, die waren voll mit Geld, hoch aufgetürmt, Inflationsgeld. Und das war dann auch die Zeit, wo wir immer umtauschen mussten. Wir saßen auf der Treppe und plötzlich rief meine Mutter: Kinder, einkaufen! Kaum hatte sie Geld bekommen, musste man es sofort in Waren beziehungsweise Lebensmittel investieren, es verlor stündlich oder noch schneller an Wert. Wir bekamen einen Zettel und das Portemonnaie und gingen mit dem Dienstmädchen zum Kaufmann, Milchladen, Fleischer, Bäcker. Manchmal wurde es, während man in der Schlange anstand, schon teurer, dann musste einer nach Hause rennen und mehr Milliarden holen.
Ja, ja, es war so, dass also die Geldwirtschaft absolut durch unsere Wohnung hindurch ging. Das muss so 1923 gewesen sein. Und bald begann ja die Arbeitslosigkeit. In den Hof kamen Leute und machten Musik, dann rannte man gierig ans Fenster. Manchmal sang auch eine ganze Familie mit verhärmten Gesichtern. Wenn sie fertig waren, hielt der Vater seinen Hut hin und die Leute fingen an, von oben Geldstücke runterzuschmeißen, in Zeitungspapier eingewickelt. Wir versuchten vergeblich zu zielen, und seine Kinder hoben alles vom Boden auf.
Und dann hatten wir eine Dienstbotentreppe, da mussten die armen Leute immer raufgehen, wenn sie bettelten. In manchen Häusern war es sogar verboten, betteln und hausieren. Sie klingelten hinten, das war die Tür an der Küche, meistens waren es Männer, sie wollten Fenster putzen, bohnern, Teppiche klopfen, die Nähmaschine ölen. Meine Mutter ließ sie immer rein und gab ihnen irgendeine Arbeit, obwohl die Wohnung vor Sauberkeit glänzte.
Mutter hat für sie Kaffee kochen und Brote machen lassen. Es gab dafür ein extra Geschirr und sogar eine "Bettler-Tasse". Sie hat sich lange mit den Leuten unterhalten, ihre Lebensgeschichten angehört. Das war für uns spannend. Dann sagte sie: Geld habe ich nicht, aber ich kann Ihnen Kleidung von meinem Mann geben. Die Männer saßen auf dem Küchenbalkon und rauchten, und Mutti gab ihnen Vatis Sachen. Die konnten sie dann verkaufen, auf dem Kleidermarkt.
Wenn mein Vater nach Hause kam oder von der Dienstreise, sagte sie: Ach, das hat dir sowieso nie gestanden. Mein Vater hat alles toleriert, auch dass sie die Wohnung ständig umräumte, sogar sein Bett, und dass sie morgens nie aufstand.
Er machte uns das Frühstück und trug immer einen eleganten kamelhaarfarbenen Morgenrock mit einer Kordel drum, dazu sein Monokel an der Seidenschnur, werd ich nie vergessen. Dann schmierte er Karin und mir die Schulbrote, zog sich an und dann gingen wir zusammen los. Ganz leise haben wir vorher Mutti das Frühstück ans Bett gestellt, unterwegs fragte uns Vati noch mal ab, ob wir alles wissen. Und in den zwei Stunden Pause mittags gingen wir dann immer in sein Büro. Das war in der Wilhelmshöher Allee, in einem Eckgebäude (sie zeichnet die Anlage mit dem Finger aufs Tischtuch).
Er war ja zuständig für alle Schulen. In einem Regal hatte er sämtliche Schulbücher stehen. Da stürzten wir uns sofort drauf. Schön war auch, wenn wir am Wochenende mit der Straßenbahn rausgefahren sind in den Habichtswald, zum Wandern. Wir hatten immer einen Malblock und Aquarellfarben dabei. Vati war sehr fürsorglich, er hat uns auch oft ermahnt, dass wir aufpassen im Straßenverkehr, da waren ja nicht nur die Pferdedroschken, es kamen auch immer mehr Automobile, sagte man damals, auf.
In der Schule war der Arzt und hat alle untersucht, er sagte: Die ist zu dünn und die und die auch. Wir wurden aussortiert und mussten in der großen Pause zu Frau Dr. Soundso, furchtbar! Ein Löffel Lebertran. Dann konnten wir gehen. Wir Dünnen bekamen eine Weile auch "Quäkerspeise", das war eine amerikanische Zufütterung für unterernährte Kinder. Haferflocken, Milchbrei und so was, aber es gab keinen Zucker. Man sollte sich viel im Freien aufhalten, frische Luft und Sonne. Als dann die Flussbadeanstalt an der Fulda eröffnet wurde, sind wir da natürlich hin. Dort war alles voll mit Arbeitslosen. Man musste sich sehr beeilen, musste früh da sein, sonst kriegte man keinen Platz mehr am Wasser.
Es war ein Gedränge, lauter schöne junge Männer, sehr fröhlich und laut. Die sprangen unentwegt ins Wasser, auch die, die nicht schwimmen konnten. Es war herrlich! Aber meine Wonne in der "Fulde" war immer das Brot. Meine Tante Elsie schmierte uns Stullen und die waren in Architektur-Pergamentpapier eingepackt, mit Grundrissen. Papier war ja auch Mangelware. Ihr Mann war Architekt. Und ich bin überzeugt, das ich wegen dieser schönen Stullenpapiere Architektin werden wollte. Zu Hause hatten sie herrliche Innendekorationshefte, ganze Jahrgänge, und Hefte über Architekten und ihre Häuser, solche Stapel. Da ging ich fleißig hin und studierte alles ganz genau. Als ich mit 16 später dann Henselmann kennen lernte - er war ja zehn Jahre älter und schon fertiger Architekt -, da war der völlig fassungslos, dass ich bis in die Tiefen Tirols hinein die Architekten und ihre Häuser kannte.
Ab 1924 normalisierte sich das dann wieder mit dem Geld, aber die Arbeitslosen nahmen immer noch zu, da gabs große Massenentlassungen in den Fabriken und ich erinnere mich an Demonstrationen. Eines Tages hatte Mutti plötzlich Geld, mein Großvater hatte ihr irgendwelche Aktien vermacht, die wurden aufgelöst. Die Eltern gingen einkaufen und dann gabs eine große Überraschung. Wir bekamen zwei Mäntel und zwei Pullover. Kein Mensch hatte neue Pullover an! Wir waren stolz. Bücher hatte sie auch gekauft für uns. Spielzeug nicht, nein. Wir hatten nie Spielzeug, nur Puppen.
Abends haben wir oft Domino gespielt oder Quartett mit den Eltern, aber eines Tages hatte Vati einen dieser neuen Radioapparate gekauft, es war grade die erste Rundfunkübertragung gesendet worden in Kassel - das sich übrigens damals noch mit C schrieb. Mein Vater saß vor einem schwarzen Brettchen, auf dem eine mit Kupferdraht umwickelte Walze montiert war und eine Halterung mit Kristall, der musste mit einem Draht abgetastet werden, bis der Sender zu hören war. Wir hörten aber nichts, dieses Detektorradio funktionierte nur mit Kopfhörern. Das hat die abendliche Familienharmonie ein bisschen auseinandergebracht, aber dem "Malerquartett", immerhin, verdanke ich erste große Eindrücke über die Meisterwerke großer Maler.
Man kann sagen, wir hatten ein ruhiges, geregeltes Leben. Dazu, das fällt mir grade ein, gehörte auch der tägliche Besuch des Milchmannes. Das war ein stattlicher Mann, er hatte keine Hand mehr durch den Krieg und trug eine gepolsterte Lederhülle auf dem Stumpf. Seine Milchkanne, ein Riesending, wie man sie auch auf der Straße sah, hängte er in diesen Arm und schleppte sie vier Treppen hoch. Dann kippte er sie ein wenig an und schöpfte mit dem Litermaß - das hatte einen langen Stiel und oben einen Henkel - für uns die Milch in ein Gefäß. Er kriegte immer ein Trinkgeld. Brötchen wurden auch gebracht, aber eine Weile holten wir sie selbst. Ich sehe uns noch, wie wir immer die Querallee hochrannten. Oft haben wir dabei auch den Arbeitslosen zugeschaut, es gab ja andauernd Demonstrationen. Man hörte sie singen und wusste, aha!
Aber nicht dass es jetzt so aussieht, als wären wir reich gewesen. Sagen wir mal, uns gings recht gut. Aber wir haben in Kassel beispielsweise immer nur Margarine gegessen. Butter war zu teuer. Und zweimal die Woche gabs Fleisch, einmal Fisch vielleicht, ansonsten Suppen, Gemüse, Kartoffeln. Obst aßen wir auch nur wenig, wir hatten ja keinen Garten. Fleisch war damals teuer, man züchtete noch nicht so viele Tiere. Das gabs nicht, dass man dauernd Hühner aß, Hühnerbeine, Hühnergeflügel. Man kaufte ein Huhn in einem Stück, mit Kopf und Füßen, das wurde ausgenommen und zubereitet. Hinterher gabs aus den Knochen und Resten Suppe.
Ne, Taschengeld bekamen wir nicht, das kriegte ich erst später in Berlin, acht Mark für vier Wochen. Es war eigentlich so, dass wir keine Bedürfnisse hatten. Wir spielten und wenn der Ball kaputt war, dann bekamen wir einen anderen. Ich habe viel gelesen, es gab eine Leihbücherei. Ich habe "Onkel Toms Hütte" gelesen und so was, die Befreiung der Armen und Kranken (lacht), für 20 Pfennig Leihgebühr. Zu meinem zwölften Geburtstag bekam ich von meinen Eltern ein wunderbares Geschenk: eine vollständige Dickens-Ausgabe. Ich habe mich draufgestürzt und nur noch gelesen. Meine humanitären Empfindungen wurden dadurch geweckt (sie lacht amüsiert auf).
Das war 1927, und das war auch das Jahr, in dem unser Bruder Raimund geboren wurde. Meine Mutter war bereits 39, hat sich aber bald erholt. Ne, ich muss sagen, wir waren eigentlich sehr bescheiden erzogen worden, Süßigkeiten zum Beispiel, so was kannten wir gar nicht. Die Wirtschaftskrisen der 20er- und 30er-Jahre waren ein Grund, aber es war einfach nicht üblich. Wir hatten weder Bonbons noch Schokolade oder Kekse, gar nichts. Und wir vermissten Süßigkeiten überhaupt nicht. Pudding oder Flammeri, das gabs, süße Suppen, Grießbrei mit Himbeersirup, Kuchen und Weihnachtsgebäck. Aber das war nicht aus christlicher Bescheidenheit. Wir sind überhaupt nicht religiös erzogen worden. Meine Mutter war antireligiös. Aber auch sehr naiv, denn sie fiel auch auf Nazis rein. Sie fiel auf alles Mögliche rein nach Vatis Tod, und dann wars wieder nichts. Dann begeisterte sie sich für einen anderen oder für den Dalai Lama. Mein Vater war evangelisch, er wurde freundlich erzogen, sein Vater war Schulleiter des Gothaer Gymnasiums und hat eine griechische Grammatik verfasst, es wurde zwar bei Tisch gebetet, aber sie sind nur an Weihnachten in die Kirche gegangen zur Mitternachtsmesse.
Was ich euch noch erzählen wollte, ist das mit der Haustochter. Die Haustochter war eine Erfindung der Nachkriegszeit, also nach dem Ersten Weltkrieg und der Zeit der Arbeitslosigkeit. Die Haustochter war ein junges, schulentlassenes Mädchen ohne Beruf. Die wurde also erst mal gegen Unterkunft und ein kleines Taschengeld in eine Familie gesteckt und musste dort die Hausarbeit machen. Als Tochter behandelt wurde sie eigentlich nur dadurch, dass man auf ihren Lebenswandel achtete und sie gleichberechtigt am Esstisch der Familie sitzen ließ. Es konnte anderswo aber auch passieren, dass sie in der Küche essen mussten, oder sie wurden oft auch "entehrt", also der Hausherr oder einer der Söhne hat sich an sie herangemacht. Daher musste man schon sehr aufpassen, wohin man seine Tochter gab.
Unsere Haustochter hieß Everilde, sie kam aus der Verwandtschaft meiner Mutter und interessierte sich nicht besonders für unseren Haushalt. Sie wollte das Stadtleben kennen lernen, ließ sich einen Bubikopf schneiden und kaufte sich eine lange Zigarettenspitze. Beim Bohnern legte sie Platten aufs Grammophon und übte Charleston. Später, als ich längst verheiratet war, im Krieg in der Nazizeit, da hatte ich auch oft eine Haustochter. Meistens ein bis zwei Hausangestellte - ich hatte ja schon eine Menge Kinder zu versorgen - und eine Haustochter. Die Nazis hatten das übernommen, zuerst war es freiwillig, dann wurde es zum "Hauswirtschaftlichen Pflichtjahr" gemacht, für Frauen und Mädchen bis 25, glaube ich, die mussten sich das zum Nachweis eintragen lassen ins Arbeitsbuch.
Ich hatte ein letztes Erlebnis mit einer Haustochter, sie sollte vor allem mit den Kindern im Wald spazieren gehen. Sie meldete sich auf meine Annonce hin. Sie kam in Begleitung der Mutter und die Mutter fing an, mir Vorschriften zu machen, behauptete, ich hätte sie bereits angestellt, auf Grund der Annonce. Es kam zum Streit, es war ganz furchtbar. Ich musste sie rauswerfen, beide. Und ich hatte natürlich Angst, dass sich die Frau über mich beschwert im Nazi-Büro. Aber es kam nichts. Ich habe dann eine Hausangestellte gefunden, irgendwo vom Dorf, die war furchtbar nett und lange bei uns. Im Laufe meines Lebens habe ich 46 Dienstboten, oder Hilfskräfte, sag ich mal, beschäftigt. Goethe hatte 65, und der hatte keine acht Kinder! Und an jede einzelne Person erinnere ich mich namentlich und habe sie in meinem Buch beschrieben.
Das alles ahnte ich natürlich nicht, als ich damals als Kind in Kassel unserer Everilde beim Bohnern und beim Charleston zusah. Wir sind dann in Kassel noch mal umgezogen. Und 1929, im September, zogen wir nach Berlin. Das war aufregend. Mein Vater hatte die Wahl gehabt, Verwaltungsdirektor der Charité oder der Berliner Schlösser zu werden. Er hat sich für die Charité entschieden. Und wir bezogen auf dem Gelände der Charité ein Riesenhaus mit 14 Zimmern. Ich war 14 und bestaunte diese neue Welt. Nein, vom Schwarzen Freitag im Oktober haben wir Kinder überhaupt nichts mitgekriegt. Weder von der Inflation kriegten wir diesmal was mit noch von der Weltwirtschaftskrise. Seltsam eigentlich … Es ging uns sogar viel besser als damals in Kassel. Vati hatte bei einer Fleischwarenfabrik in Apolda die vierteljährliche Lieferung eines großen Pakets mit Wurst und Schinken geordert. Ich durfte sie immer auspacken und in der Speisekammer aufhängen. Wir hatten wahnsinnig viel Platz. Jeden Tag brachte uns der Gärtner der Charité frische Blumen auf die Veranda.
Meine Mutter hatte im ersten Stock ihr Atelier und malte, sie hatte sich als Sibylle Aschberg von Bamberg schon einen gewissen Namen gemacht. Sie hat ja zuerst in Düsseldorf bei Peter Behrens studiert, der war ursprünglich Maler, das weiß kaum jemand. Jedenfalls, meine Mutter malte und mied den Haushalt, den bewältigten Fräulein Ortmann und ein Mädchen. Aber sie konnte natürlich sehr elegant auftreten. Zu den Pflichten meines Vaters gehörte es auch, offiziell Essen zu geben in unserem Haus. Da waren vor allem die Kapazitäten der Charité eingeladen, auch Professor Sauerbruch. Und wir Mädchen haben eifrig den Speisenaufzug bedient, der die Bratenplatten aus der Küche nach oben beförderte. Im Keller hatten wir Kellerasseln, die kamen durch die Hühner, die der vorige Direktor im Keller gehalten hatte.
Trotz seiner Verpflichtungen nahm sich unser Vater immer die Zeit, sich um uns zu kümmern. Oft verbrachten wir die Abende im Herrenzimmer. Mutti lag auf dem grünen Sofa und las - das Sofa, auf dem alles passierte: Hermann küsste mich hier später zum ersten Mal - und … also Vati holte ein Notizbuch hervor und wir rechneten gemeinsam den Verbleib unseres Taschengeldes durch, er nahm es ganz genau, 20 Pfennig Straßenbahn, 10 Pfennig dies oder das. So, sagte er, jetzt muss das und das übrig sein. Fehlten auch nur ein paar Pfennige, mussten wir noch mal zählen. Wir sollten lernen, mit Geld umzugehen und dass man die Verantwortung hat für sein Portemonnaie. Das war Lebenserziehung. Erziehung zu Sparsamkeit, Ordnung und Verantwortung. Und Respekt vor dem Geldausgeben! Wir trauten uns kaum, ihn mal um Geld zu bitten, wenn es mal nötig gewesen wäre. So hat er uns dressiert. Gott sei Dank nur zwei Jahre.
1931 lernte ich Henselmann kennen. Ich hatte die Schule hinter mich gebracht, meine Mutter wollte mich in die Gesellschaft einführen und wir hatten im "Haus Vaterland" im Palmensaal einen Tisch reserviert, zusammen mit Bekannten, und an diesem Tisch saß dann auch Henselmann, mit roter Krawatte. Ich wollte ja Architektin werden und deshalb holte ihn meine Mutter sozusagen als Tischherrn an meine Seite. Und so kam das dann alles. Er gefiel mir sehr gut, irgendwie war ich ihm auf der Stelle verfallen. Und ich gefiel ihm auch sehr. 1931 ist mein Vater dann plötzlich gestorben. Zuerst war er im Krankenhaus. Hermann besuchte ihn noch, war einmal an seinem Bett und kurz darauf ist er gestorben. Wir mussten dann ausziehen aus dem Haus, da in der Charité. Meine Mutter fand eine herrliche Fünfzimmerwohnung. Wirtschaftlich ging es ihr gut, sie hatte ja die Witwenpension von meinem Vater. Wir sind an die Ostsee gefahren. Ne, von der Weltwirtschaftskrise haben wir immer noch nichts mitgekriegt, muss ich zu meiner Schande gestehn. Das ist so wie heute ungefähr. Du würdest jetzt ja auch gar nichts weiter bemerken, wenn man es dir nicht andauernd sagen würde. Wenn die Milch ein bisschen billiger wird, und dann ein bisschen teurer, das interessiert erst mal nur den Milchmann. Warum sollte uns das kümmern? Wir haben jetzt nicht unbedingt üppige Garderobe getragen, und dann reichte schon auch mal das Geld nicht für einen Mantel, aber wir haben nicht gelitten. 1932 habe ich mich dann verlobt mit Hermann und bin in die Lehre gegangen bei einem Tischler namens Tyrolph, in der Boxhagener Straße. Ein Möbeltischler, ich musste die Schubladen der Schränke innen mit Holzfurnier bekleben, ich habe sogar unter seiner Anleitung einen schönen Nähkasten aus Nussbaumholz gebaut. Morgens um sieben musste ich schon den Ofen heizen, ich lernte hobeln und sägen und baute ohne Hilfe einen selbstentworfenen Teetisch aus schwarz gebeiztem Holz. Vorher hatte ich schon einen halben Sommer lang auf einer Baustelle von Hermann in Kleinmachnow ein bisschen gemauert. 1934 haben wir geheiratet.
Ich wollte ja unbedingt Architektin werden, aber 1948 waren wir plötzlich eine zehnköpfige Familie geworden (sie lacht), das bestimmte mein Leben. Ich war ein Kriegskind und ich war eine Kriegsmutter, die manchmal bis zu 24 Personen umzusiedeln und zu versorgen hatte. Viel Essen musste herangeschafft werden - egal, ob wenig oder genug Geld da war. Viel Brei wurde gekocht, Obst und Gemüse musste verarbeitet werden, alles ohne Küchenmaschine. Morgens brauchten wir drei Kilogramm Brot für Schulbrote und mehrere Liter Milch, abends noch mal einen Laib Brot. 160 Fuß- und Fingernägel mussten geschnitten werden. Das war mein Leben (sie lacht) und plötzlich wurde man alt … und ich werde immer noch älter, schrecklich! Dass man allerdings in so einem Heim mal enden wird, habe ich nicht angenommen. Das war zu weit weg, nicht?
Ich schlage Isi vor, dass wir mal durchzählen, wie viele Währungswechsel in ihrem Leben stattgefunden haben. Gern, sagt sie, versuchen wir es gemeinsam, Elisabeth, du und ich: Also in der Kaiserzeit, da gabs die Mark, dann kam die Weimarer Republik, da gabs vor allem Inflations- und Notgeld bis 1923, da war die Währungsreform. Danach gabs erst mal die Rentenmark und ab 1924 dann die Reichsmark. Die war dann auch die gesamte Nazizeit über gültig (Hitler war übrigens nie auf einer Münze abgebildet, das Hakenkreuz schon). Nach der BEFREIUNG, sagt Isi, bekamen wir dann die Mark der DDR (wir sagen Ostmark, während unsere D-Mark im Osten Westmark genannt wurde). Isi lacht und sagt: Nach dem ZUSAMMENBRUCH bekam ich dann meine Rente ab 1990 in D-Mark und seit 2002, glaube ich, in Euro. Siebenmal Wechsel des Geldes und meist auch der Verhältnisse. Na ja, seufzt Isi, man schlängelte sich so durch, 94 Jahre lang. Also der Blick zurück auf mein Leben, das ist ein bisschen so, als würde ich als Tourist über eine schwankende Hängebrücke gehen und unten das Wasser ist voller Krokodile … Was jetzt kommt, das kenne ich schon! Es ist alles Schreckliche möglich - und es wird getan werden.
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