Ein Jahr Madame Tussauds in Berlin: Eine historische Marke
Vor einem Jahr eröffnete Madame Tussauds in Berlin – seither stürmen die Massen ins Wachsfigurenkabinett. Was ist das Erfolgsgeheimnis dieses globalen Unternehmens?
Klaus Wowereit wurde aus dem Eingang verbannt. Einen Tag nach dem Tod Michael Jacksons steht das Abbild des Regierenden Bürgermeisters, der bisher die Besucher des Wachsfigurenmuseum Madame Tussauds in Berlin begrüßte, nicht vor der Kasse. Es wurde durch das des Popstars in einer seiner Fantasieuniformen ersetzt.
Jackson schaut anscheinend nachdenklich in die Besuchermassen, neben ihm auf einem kleinen Tisch, liegt aufgeschlagen das dicke Kondolenzbuch, ein Strauß weißer Lilien, ein herzförmiger Luftballon verliert langsam Luft. Patricia aus Thüringen schreibt noch ein paar Zeilen ins Buch, da wirft sich ein anderes Mädchen schon zum Trost in die Arme seiner Mutter.
"Ich weiß nicht, warum er gegangen ist", schluchzt sie ihr ins tiefe Dekollete. Michael Jackson hat es im Tod gerade noch einmal geschafft, den Tussaud-Popularitätstest zu bestehen. Am Donnerstag zuvor verkümmerte er noch hinter einem Durchgang im ersten Stock.
Dieser Tussaud-Popularitätstest wurde 1849 in der britischen Zeitschrift Punch beschrieben: "Man muss sein Ebenbild bei Madame Tussauds stehen haben, um zum Leitbild der Massen zu werden." Wer berühmt war oder nicht, das sah man am besten beim Besuch der Ausstellung.
Aufgegriffen und recherchiert hat dieses Thema die Autorin Kate Berridge. Sie beschäftigt sich in einer klugen Biografie mit der Wachsbildnerin, beschreibt den Aufstieg eines einfachen Mädchens aus Straßburg zur brillanten Handwerkerin im revolutionären Paris, zur reisenden Schaustellerin in England und schließlich zur gewieften Firmengründerin.
"Mich hat daran vor allem diese eklatante Lücke interessiert", sagt Berridge aus London am Telefon, "zwischen dem, was wir über die wirkliche Frau Marie Tussaud wissen, und dem, was mit ihrem Namen verbunden wird." Tatsächlich ist bei einem Besuch im Wachsfigurenkabinett heute seine außerordentliche Funktion im 19. Jahrhundert nur noch schwer zu erkennen. "Wir neigen heute dazu, es als frivoles Vergnügen abzutun", sagt Berridge.
Ein Eindruck, dem das Museum wenig entgegensetzt. Durch die Räume in Berlin, am 5. Juli 2008 eröffnet, werden die Besucher geschleust wie durch ein Ikea-Möbelhaus. Am Anfang eines Gangs weiß man nicht, wo er einen am Ende hinführt. Durch die niedrigen Decken und den Umstand, dass es keine Garderobe gibt, man also mit Schirm, Jacke und Kinderwagen durch die Erlebniswelten mäandert, hat ein Besuch bei Tussauds etwas Erschöpfendes. Sitzgelegenheiten fehlen, die Musik dröhnt, und immer wieder blitzt es, weil das wichtigste Utensil für den Besucher hier der Fotoapparat ist, der das, was als Bildmaterial vorhanden ist, stark demokratisiert hat.
Kameras gab es zu Lebzeiten von Marie Tussaud noch nicht, Bilder in Zeitungen beschränkten sich auf Zeichnungen aus ein paar Strichen. Damals, so Berridge, war es für die Besucher eine wichtige Informationsquelle zur Politik aber auch den Skandalen der Zeit. Dass Tussaud ein gutes Gespür für die Interessen der Menschen hatte, half, eine einfache Ausstellung in eine interessante Geschichte zu verwandeln. Die aufstrebende Mittelschicht Englands mit Zeit und Muße für Interessen und Bildung nahm diese primitive Form der virtuellen Realität, wie Berridge sie nennt, dankbar an.
Heute kann jeder Politikern, Showstars und Sportlern auf dem Bloggingdienst Twitter folgen, sich in Magazinen über ihre kleinen und großen Macken informieren, und dennoch ist das Wachsmuseum in Berlin knallvoll. Besucherzahlen gibt das Unternehmen nicht heraus, die Marke und das Mysterium werden noch gepflegt, versichert jedoch, die Ausstellung mit den 75 Wachsfiguren laufe gut.
"Man kann daraus sehen, dass unsere Interesse an Berühmtheiten eine Konstante ist", erklärt Berridge. Nur wie wir uns mit ihnen beschäftigen, hat sich geändert. Die Distanz zu ihnen ist, bei Tussauds wie im Leben, kleiner geworden. "Diese Figuren sind nahbar", sagt Berridge. Der neugierige, unverhohlene Blick werde eben nur scheinbar erwidert. Anders als in Museen, in denen wahre Schätze stehen, darf der Besucher diese Ausstellungsstücke anfassen.
So zupft ein Besucher in Berlin am Ohrläppchen von Willy Brandt, ein anderer vergleicht seine Größe mit der von Nicholas Sarkozy. Nur Adolf Hitler sitzt in einem Glaskabuff, fotografieren verboten, ihm wurde gleich am Eröffnungstag von einem Besucher der Kopf abgerissen.
Ein Indiz dafür, dass bei Madame Tussauds auch heute noch das Interesse der Mittelschicht geweckt werden soll, sind die Figuren zu Beginn des Rundgangs im oberen Stockwerk. Besucher können sich zu Sigmund Freud auf die Couch legen, ein Wortspiel mit dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass machen oder Joseph Beuys betrachten.
Ein paar pubertierende Jungs fassen der Wachspuppe von Feministin Alice Schwarzer an die Brust, die dazu gehörigen Mädchen posieren mit der massentauglichen Sissi. Wer mag, kann sich kostenpflichtig mit der Diva Marlene Dietrich fotografieren lassen oder die eigene Hand in Wachs gießen lassen. In der Mitte der Ausstellung, aber bei weitem nicht im Zentrum, steht die Figur der kleinen Firmengründerin. Sie hält einen Wachskopf in der Hand und lächelt.
Anhand von Herbert Grönemeyer wird gezeigt, wie die Herstellung der Wachspuppen, die bis zu 200.000 Euro kosten können, funktioniert. Ein Film erklärt die Geschichte von Marie Tussaud, geborene Grosholtz, und zementiert einige der Mythen, die sie selbst schuf. Beispielsweise den, dass sie als Opfer der Französischen Revolution gezwungen war, Modelle von abgeschlagenen Köpfen zu fertigen.
Berridge räumt in ihrem Buch mit diesem Mythos auf, erklärt, wie Tussaud sich dieses Image zurechtlegte, und vor allem, weshalb. Nämlich um in dem Geschäft, als quasi alleinerziehende Mutter überleben zu können. Wachsbildner gab es andere, die auch gut waren, die ebenfalls als wandernde Zeitung funktionierten. Doch Marie Tussaud war französischer Herkunft, hatte eine Wachsfigur von Napoleon, den Keil einer Guillotine und einen ausgeprägten Geschäftssinn. So achtete sie penibel auf jede Kleinigkeit in Positionierung und Beleuchtung, ließ ein Orchester im Hintergrund spielen, so dass der Besucher sich kräftig erbaut fühlte, durch das, was er erlebte.
Tussaud selbst sparte an ihrer Kleidung, gab sich unauffällig, bei der Inszenierung aber sollte alles perfekt sein. "Die wirklich interessante Geschichte an ihr", sagt auch Berridge, "ist wie sie allen Widrigkeiten zum Trotz geschafft hat, diese Marke zu schaffen, die noch immer besteht." Durch ihren Erfolg in einer Zeit, in der Frauen im Geschäftsleben nichts zu suchen hatten, steckt hinter der Legende ein wirkliches Vorbild.
Marie Tussaud starb 1850 im Alter von 90 Jahren in London. Die von ihr gefertigten Figuren aber bestehen zum Teil noch immer. Es lohnt sich, mit dem Buch von Berridge in der Hand durch die Ausstellung zu gehen. Dann wird hinter dem Spektakel und den Blitzlichtern der Kleinbildkameras deutlich, wofür sich Menschen damals wie heute interessieren. Nämlich für andere Menschen. In Wachs und in Wirklichkeit.
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