■ Eine Nation – viele Gemeinschaften: Ein Faktor der Natur, Kultur und Politik
Das Konzept einer „Nation“ hat stets den Charakter des Vagen, Unverbindlichen. Jedesmal wenn man nach der Lektüre eines der – unzähligen – Bücher zum Thema meint, den Schlüssel dazu gefunden zu haben, muß man schon kurz danach erkennen, daß dieser Schlüssel nirgendwo hineinpaßt. Bis heute ist unklar, ob es sich bei „Nation“ um einen Faktor der Natur, der Kultur, der Politik oder um eine Mischung aus allen dreien handelt.
„Nation“ gehört zum Sammelbegriff „Gemeinschaft“. Während eine Vereinigung überaus groß sein und – wie etwa die Vereinten Nationen – die gesamte Welt umfassen kann, beginnt die „Gemeinschaft“ mit der Familie, einer überaus kleinen Gruppe also. Eine Gemeinschaft, die sich, je größer sie wird, um so mehr verflüchtigt. Das ist der Grund, warum man in den letzten Jahren die „Ethnien“ wiederentdeckt hat: In einer Ethnie erhält sich alles aufrecht, Sprache, historische Wurzeln, Erinnerung an die Vergangenheit, Gebräuche und Moden, die Folklore. In einer Nation, die aus vielen Ethnien besteht, sind diese Bindungen viel weniger festgefügt. Das Band, das die Piemontesen untereinander oder die Sizilianer eint, ist viel fester als jenes, das die Bewohner ganz Italiens umfaßt. Nationales Bewußtsein formt nur langsam.
Der Geist einer Nation bildet sich – nicht anders als der einer kleinen Gemeinschaft, wenn auch mit größerer Schwierigkeit – aus der Vorstellung einer Spitzenstellung: „Wir sind besser als die anderen.“ Nun gibt es freilich ganz unterschiedliche Vorstellungen von diesem „Bessersein“. Der gebildete Italiener ist stolz darauf, dem Volk Dantes und Petrarcas, Machiavellis und Galileos, Michelangelos und Raffaels anzugehören. Der einfachere Italiener aber ist stolz auf seine Radrennfahrer, seine Formel-1- Autos und seine Fußballer, wenn sie die Weltmeisterschaft gewinnen; oder er hält sich, wie Umfragen zeigen, schon deshalb für überlegen, weil man hier besser ißt als anderswo. Warum auch nicht?
Ich schließe daraus, daß die Schwierigkeit, von einer Nation – in diesem Fall der italienischen – zu sprechen, nicht davon herrührt, daß es diese Nation nicht gibt. Der Grund liegt eher darin, daß es aus historischen Gründen und der sozialen Schichtung wegen eine ganze Anzahl von Nationen in dieser Nation gibt, und sie alle müssen mit Fug und Recht in Betracht gezogen werden, wenn man nach einer Nation „Italien“ fragt und welchen Sinn sie haben könnte. Gerade weil es viele Nationen in einer solchen Nation gibt, ist es schwierig, sie beisammenzuhalten.
Das einzige „Italien“, das im Laufe der Zeit als „Nation“ gehalten hat, ist das der Gebildeten. Doch es kann nicht das einzige Italien sein. Norberto Bobbio
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