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Ein Dom, der zum Tanzen taugtGetanzte Totenmesse

144 Jahre nach der "Uraufführung" im Bremer Dom wird Johannes Brahms Deutsches Requiem dort ein zweites Mal aus der Taufe gehoben - als Abschieds-Choreografie von Urs Dietrich, dem langjährigen Tanzchef

Der Dom als finaler Tanzort: Urs Dietrich und sein Ensemble (hier Miroslaw Zydowicz) verabschieden sich aus Bremen Bild: Jörg Landsberg

Sich mit einem Requiem zu verabschieden ist eigentlich das Vorrecht der Toten. Urs Dietrich, der scheidende Bremer Tanzchef, wird seine ungebremste künstlerische Vitalität demnächst in Berlin einbringen – trotzdem schien ihm Johannes Brahms’ „Deutsches Requiem“ der passende Schlussakkord für fast zwei Jahrzehnte, in denen er und sein Ensemble die bremische Tanzlandschaft prägten.

Immerhin gilt das Brahms-Requiem als das Bremer Musikepos schlechthin – weil es hier uraufgeführt worden sei. Und der Ort dieses musikhistorisch bedeutenden Aktes steht auch noch: der Dom. Dort wurden jetzt die gewaltigen Kronleuchter abgeschraubt, wie Lianen sind die langen Halteketten an den Seitenwänden des Hauptschiffs befestigt. Bühne frei für die getanzte Totenmesse.

Sie beginnt mit Feuer. Meterhoch schlagen die Flammen aus einer weißen Anzugjacke, der Rücken in ihrem Inneren gehört einer Puppe. Der Kopf weiß um den Fake, die Augen jedoch sehen ein Fanal. Und die Ohren? Die hören Matthäus 5, Vers 4: „Selig sind, die da Leid tragen.“ Dietrich ist ein spiritueller Mensch, ein auffällig stiller Existenzialist, der das Stoffliche liebt und sich ebenso sehr für dessen Vernichtbarkeit interessiert. Dann sind seine TänzerInnen im Finanzamt zu sehen.

All’ diese Verwandlungen sind möglich, weil eine gewaltige Leinwand das Kirchenschiff unterteilt. Die Kamera war für Dietrich schon immer ein wichtiges choreografisches Instrument, er filmt seine TänzerInnen beim Wälzen im Wattenmeer und verfolgt den Fluss einer Träne vom Auge bis zur Fußsohle. „Dass mein Leben ein Ziel hat“, singt der Chor, und diese Sehnsucht nach Linearem passt ebenso zur Spur des Tränentropfens wie zu den endlos langen Gängen der Bremer Finanzbehörde, durch die man die Tänzer unermüdlich laufen sieht.

Das „Deutsche Requiem“ – so genannt wegen seiner nicht-lateinischen Texte – war zum ersten Mal an Karfreitag 1868 im Bremer Dom zu hören. Zwar kann man kleinlich sein und sagen: Die wirkliche Uraufführung des berühmten Werks war das nicht, sie fand – fast ein Jahr später – in Leipzig statt. Dann erst hatte das Werk seine endgültige, siebensätzige Gestalt. Die ersten drei Sätze wiederum hatte Brahms, vor Bremen, bereits in Wien dirigiert. Das reduziert den Bremer Uraufführungs-Anteil auf exakt drei Siebtel des Werkes – aber der Mythos vom Deutschen Requiem als Bremer Baby ist im lokalen Bewusstsein derart verankert, dass man ihm mit Bruchrechnung kaum beikommt.

Die Aura des Authentischen ist ja auch durchaus vorhanden: Die Bremer Philharmoniker spielen heute noch aus den Noten des Erstdrucks, viele Generationen von Hornisten und Geigern haben ihre Bleistiftnotizen in den jeweiligen Stimmausfertigungen hinterlassen. Brahms höchstselbst dirigierte sie seinerzeit, wo genau er dabei stand, weiß heute allerdings keiner mehr.

Dabei ist das stets das größte – und schwierigste – Problem, wenn man in Bremens Hauptkirche etwas aufführen will: Wo, verflixt noch mal, gibt es die wenigsten akustischen Interferenzen? Ob man sich auf die Ost- oder Westempore stellt oder mitten hinein vor Kanzel und Altar – immer lautet die lästige Frage: Aus welchem Seitenschiff kommt der zeitverzögerte Nach- und Nebenhall nun wieder zurück?

Der langjährige Domkantor träumte von großformatigen Schallsegeln, mit denen er den wild mäandernden Klangfluss regulieren wollte, die taz-Kulturredaktion forderte konsequent gar den Abriss des ganzen Gebäudes, damit Platz für einen akustisch tauglichen Neubau wäre. Die Macher der aktuellen Uraufführung haben sich für eine baulich deutlich unaufwendigere Maßnahme entschieden: Die das Westschiff absperrende Leichtbauwand taugt zur Begrenzung der Klangdiffusion – neben ihrer Funktion als Riesenleinwand.

Dort ist jetzt der scheinbar tote Miroslaw Zydowicz zu sehen, der von seinen MittänzerInnen mit Stoffen aller Art überhäuft wird. Vor seiner Tanzausbildung lernte Dietrich Textildruck und Kostümdesign, seither hat er viele Choreografien auch textil akzentuiert. Aber warum vertraut er diesmal nicht stärker der unvermittelten Physis seiner TänzerInnen?

Neben ihrer beeindruckenden Leinwandpräsenz tauchen sie zunächst nur zwischen den Requiem-Sätzen auf. Nun soll man das künstlerische Potential von Intermezzi nicht unterschätzen: Ganze Gattungen wie die Oper sind aus solchen Zwischenspielen hervorgegangen. Und es ist durchaus beeindruckend, wie Vladislav Bondarenko nackt auf den Schultern von Robert Pryzybyl reitet und dabei Münzen in einen großes Metallgefäß scheppern lässt – richtig katholisch klingt das. Aber als endlich, im sechsten Satz, in dem es um die Auferstehung der Toten geht, das reale Tanzensemble vollständig erscheint und Mittelgang und Altarraum mit einem dichten Bewegungsreigen füllt – da ist man doch erleichtert, dass die Medialität in ihre Schranken gewiesen wird.

Dom und Theater sind traditionell die beiden großen Tempel der Illusion im Leben einer Stadt. Wenn die Theaterleute die Kirche gleich mit übernehmen, potenziert sich die Suggestionskraft. Der letzte Versuch in diese Richtung ging schief: Als der Krawall-Choreograf Hans Kresnik für eine Dom-Inszenierung der „10 Gebote“ legendär gewordene „nackte Näherinnen“ suchte, wurde es der Gemeinde zu viel, die Theaterleute flogen raus. „Von dieser Erfahrung“, versichert Dompastorin Ingrid Witte, habe man sich „mittlerweile erholt“.

Diesmal macht sogar der Domchor mit. Dominant bleibt allerdings der Opernchor, und dass Brahms nicht eben zu dessen Standardrepertoire gehört, macht sich bemerkbar. Die heftigen theatralen Effekte dieses Requiems liegen ihm sehr. Was passiert jedoch, wenn sakrale Ruhe, ein zarter Ansatz, gar Intimität gefordert sind? Dann fehlt diesen im steten Operndienst strapazierten Stimmen die Leichtigkeit, zu der ein Figuralchor fähig ist, der gerade klare Klang eines entsprechend geschulten Oratorien-Ensembles. Gut also, dass Generalmusikdirektor Markus Poschner dieses Requiem auf Drama bürstet – mit großem Gestus gestaltet er den gewaltigen Klangstrom der 160 Mitwirkenden.

Für elf von ihnen ist es ein Abschied: Neben Urs Dietrich, der in Bremen 27 zum Teil berühmt gewordene Choreografien entwickelt hat, verabschiedet sich auch sein Ensemble. Es ist republikweit eine der ältesten Tanzcompagnien, sowohl in Bezug auf die Zusammengehörigkeit als auch auf die individuellen Lebensalter. Es sind samt und sonders Persönlichkeiten, die hier ihren letzten großen gemeinsamen Auftritt haben.

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