Ein Deutscher, formbar wie ein Stück Fimo

Spielfreudig inszeniertes Historiengemälde mit Musik – und einigen Längen: Heinrich Manns „Der Untertan“ unter der Regie von Mirja Biel am Theater Lübeck hätte mutiger ausfallen dürfen

Glanz, Größenwahn, Großmannssucht: Heiner Kock als Diederich Heßling (M.) auf nachgebautem Sklavenhändlersockel Foto: Kerstin Schomburg

Von Katrin Ullmann

Macht – „Sie ist unwissend, ist so verschlagen wie roh, einigermaßen blutig, ganz der Verantwortung bar, und sieht man richtig hin, ist sie Lug und Trug, und hat man dafür ein Auge, ist sie grotesk“: Das stellt Mirja Biel dem Stück voran, projiziert die Sätze auf die Bühnenrückwand, begleitet von Schreibmaschinenklackern. Verfasst hat sie Heinrich Mann im Jahre 1932. Ein hellsichtiger Seismograf? So wird der ältere Bruder Thomas Manns schon mal bezeichnet, vor allem für den „Untertan“: 1914 vorab veröffentlicht, erschien der Roman dann 1918; ein Weltkrieg kam dazwischen.

Der „Untertan“ ist ein satirischer Rundumschlag gegen das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. und eine detaillierte Studie über einen ganz bestimmten, deutschen Charakter. Diederich Heßling nennt Mann seinen Protagonisten, den er beschreibt als „weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“. Heßlings Schwäche ist es letztlich, die ihn zum demütigen Kaiser-Verehrer werden lässt und zum herrschsüchtigen Despoten. Er ist ein perfektes Rädchen im Getriebe, und sein Handlungswortschatz besteht vor allem aus Gehorchen und Befehlen.

In Biels Lübecker Inszenierung spielt diesen Heßling Heiner Kock. Und er spielt ihn den gesamten Abend über mit einer überraschenden Menschlichkeit: Trotz seines ­liniengenauen Scheitels und seines himmelwärts gebürsteten Schnauzbarts scheint dieser Untertan zunächst planlos durchs Leben zu taumeln. Aus seinem Heimatstädtchen Netzig zieht er zum Studieren nach Berlin. Dort hat er vor allem Heimweh, später auch Heiratsoptionen. Zusammenzuhalten scheinen ihn einzig seine Hosenträger (Kostüme: Hannah Petersen), diesen ahnungslosen Anpasser, der um sich selbst kreist, sich nicht festlegen mag und keine rechte Haltung hat. Formbar wie ein Stück Fimo steht er im Raum, geradezu sympathisch in seiner Ratlosigkeit.

Patriotismus schwappt aus tönernen Bierkrügen, Stolz aus allen Stimmritzen. Das einst „weiche Kind“ hat Anschluss gefunden

Und der Raum – Berlin – ist groß: Nur ein paar, kaum hüfthoch geratene Pappkulissenteile markieren hier das Brandenburger Tor, später auch die heimatliche Provinz, in die Heßling zurückkehren wird. Bühnenbildner Matthias Nebel lässt die Szenerie weitgehend leer, jeweils an den Seiten stehen ein Schriftstellertisch und ein Klavier, ganz hinten ein paar Stuhlreihen und mittig der steinerne Sockel eines unfertigen – oder bereits demontierten? – Standbildes.

Es ist – laut Porgrammheft – die Nachbildung des Denkmals des britischen Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol; im Juni 2020 im Wortsinn gestürzt von Black-Lives-Matter-Aktivist*innen. Die Bilder gingen um die Welt und werden auch am diesen Abend wieder aufgerufen. Ansonsten sorgt eine Live-Kamera für großformatige Projektionen auf der hinteren Bühnenwand, im Wechsel mit, eben, Mann’schen Textpassagen.

Frei und träumerisch also bewegt sich Kocks Heßling durch diesen Raum. Nur kurzzeitig begeistert er sich für Agnes Göppel (Rachel Behringer), die „schöne Tochter“, die selbstbewusst „Das ist mein Stichwort!“ rufend auf die Bühne spaziert. Länger hält da schon Heßlings Liaison mit der schlagenden Verbindung, wo er rituelles Saufen zu Fackelschein erlebt. Da schwappt der Patriotismus aus tönernen Bierkrügen, Vaterlandsstolz aus allen Stimmritzen. Das einst „weiche Kind“ hat Anschluss und eine Richtung gefunden. Bald wird der Sohn die Papierfabrik des Vater erben und zurück nach Netzig ziehen, später sich einen Weg in die Politik zurechtdealen und sowieso des Kaisers größter Fan bleiben.

Im lockeren Wechsel zwischen einordnenden Erzähltexten, Projektionen und kurzen Dialogen inszeniert Biel die von ihr selbst erstellte, leider recht mutlose Fassung. Heßlings Zwischenetappen beim Militär erzählt sie als Großprojektion. Bleckende Zähne und weit aufgerissene Augen treiben ihn an, als er – einem getriebenen Woyzeck gleich – minutenlang gegen die Rotation der Drehbühne anrennt. Mutter Heßling besetzt die Regisseurin mit Robert Brandt, der mit sanft-mahnendem Gestus und einem feinen Sinn für die Konsonanten den aus der Bahn geratenen Sohn zur Räson zu rufen versucht: zurückhaltend, vornehm, spitzlippig – und machtlos. Hin und wieder tritt Heinrich Mann selbst auf: Michael Fuchs, mit Weste und gezwirbeltem Schnauzbart tippt auf der Schreibmaschine, flaniert prüfend durchs Geschehen, weist die Mit­spie­le­r*in­nen auf die korrekten Seitenzahlen hin. Im zweiten Teil lässt Biel Kol­le­g*in­nen aus dem Musiktheater Wagner wiedergeben und Heßlings Ehefrau Daimchen (Rachel Behringer) auf einer Papp-Bratwurst vor romantisch-dramatischer Naturkulisse über die Bühne fliegen. Glanz, Größenwahn, Großmannssucht – verstanden!

Der Autor ist anwesend: Michael Fuchs als Heinrich Mann Foto: Kerstin Schomburg

Insgesamt aber gelingt Biel ein eher reduzierter, spielfreudiger Abend, bei dem das Geschehen auch mal in die verrauchte Unterbühne des Ratskellers abtaucht. Der Einsatz von Live-Musik – Behringer singt, Kock spielt das, wie er charmant entwaffnend zugibt, sorgsam präparierte Klavier – lässt immer wieder freiere, stimmungsvolle Szenen entstehen; meist bleibt der zeitgeschichtliche Kontext erhalten. Mit überzeugenden Schau­spie­le­r*in­nen – Vincenz Türpe als aufrührerischer, drohender Fabrik­arbeiter Napoleon Fischer sei unbedingt noch erwähnt – erzählt Biel den Roman als zart skizziertes Historiengemälde, allerdings mit einigen Längen.

Was fehlt, ist Mut zu weißer Leinwand, zu Leerstellen, Auslassungen und Behauptungen – und zu einer klaren Position, die in die Gegenwart verweist. Die Macht ist ja immer noch „unwissend, ist so verschlagen wie roh, einigermaßen blutig“. Trotz Ausbruchsversuchen – Videoeinspielungen von gestürzten Statuen oder Plädoyers für multikulturelle Gemeinschaft – bleibt die Inszenierung in dieser Hinsicht am Sockelrand der Statue stecken.

Weitere Vorstellungen: 29. 8. sowie 4. und 25. 9., Theater Lübeck;

Matinee „Der Kaiser und sein Untertan. Heinrich Mann neu gelesen“ mit Birte Lipinski (Museum Buddenbrookhaus) und Michael Fuchs, Moderation: Degna Martens: 22. 8. und 19. 9., jeweils 11 Uhr, Lübeck, Kammerspiele