: Ein Buch der Anklage
Geflüchtete kritisieren im „Book of Shame“ Versäumnisse von UN und EU – begleitet von Aktionen zum 10. Jahrestag des „Summer of Migration“
Von Christian Jakob
Der Einband ist UN-Blau, „Book of Shame“ (Buch der Schande) steht auf dem Titel: „Wie die UN dabei versagen, Geflüchtete in Libyen, Niger und Tunesien zu schützen“. Aus „Wut, aus Trauer und aus der Weigerung, zu schweigen“, sei dieses Buch entstanden, heißt es darin. „Wir sind Opfer der Gewalt eines Systems, das sich von der Wüste bis zu den europäischen Küsten erstreckt.“
Auf 130 Seiten haben Geflüchtete Zeugnisse von Misshandlung und Entrechtung zusammengetragen, wie etwa die Geschichte eines geflüchteten Kindes, das Anfang 2022 nach einer Entführung nach Tripolis gebracht wurden – und unversorgt starb. Die Berichte wurden unter anderem von einer Hotline aufgenommen, die die Gruppe Refugees in Libya selbst eingerichtet hatte, um Beschwerden über unterlassene Hilfeleistung zu sammeln. Ihr Buch ist eine Anklage gegen die EU, die sich Libyen als Pufferstaat hält – und gegen die UN, die nach Ansicht der Geflüchteten ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, den Menschen auf der Transitroute zu helfen. Am vergangenen Freitag präsentierten Geflüchtetengruppen den Band vor der UN-Zentrale in Genf, zeitgleich protestierten Hunderte Bewohner eines Flüchtlingscamps im nigrischen Agadez in der Sahara.
Willkommenskultur, das heißt für viele antirassistische Gruppen in erster Linie, Geflüchtete in ihren eigenen Kämpfen um Anerkennung zu unterstützen – ebenso wie jenen der Gruppe Refugees in Libya. Und so war deren Aktion eine der ersten einer mehrmonatigen Kette, mit der antirassistische Netzwerke derzeit an den 10. Jahrestag des „Summer of Migration“ 2015 erinnern: In Ostdeutschland, Frankfurt, Lampedusa, Genf, Rom, Madrid, Agadez, Rabat, Wien, Sizilien und Albanien. Es geht um Seenotrettung, die Risiken der Sahara-Route, Internierung und Migrationsdeals mit Ländern wie Albanien. Die „Transnational Chain of Actions“ zeigt, wie sich die Bewegung in den vergangenen zehn Jahren international vernetzt hat.
Am kommenden Samstag startet in Mühlhausen in Thüringen die We’ll-Come-United-Karawane, eine einwöchige Protesttour mit Stationen in Sachsen und Brandenburg. Sie endet am 27. September mit Aktionen gegen die Zustände im Lager am ehemaligen Flughafen Tegel in Berlin. Der Startpunkt in Thüringen hat in dieser Hinsicht eine lange Tradition: 1994 entstand in Mühlhausen mit dem The Voice Forum die erste Selbstorganisation von Geflüchteten in Deutschland.
Ihre Klagen von damals ähneln denen im aktuellen Aufruf: Rund 600 Menschen leben im Lager Obermehler bei Mühlhausen noch immer „mitten im Nirgendwo, abgeschnitten von der Welt“. Es gebe kaum Busse, keine Arbeit, keine medizinische Versorgung – und weder Zugang zu sozialem oder kulturellem Leben noch Kontakt zur deutschen Gesellschaft, heißt es dort. Es gelte: „Isolation statt Inklusion!“ Und das müsse enden.
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