Ein Abend im Dorfcasino: Zurück zum Roulettetisch
Casinos haben in den vergangenen Jahren an Glamour verloren. Aber was ginge uns verloren, wenn die Casinos verschwänden?
SEEVETAL taz | Es kommt mir vor, als hätte ich mich gerade erst hingesetzt. Doch als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, dass schon über eine Stunde vergangen ist. Vor mir dreht die Roulette-Kugel ihre Runden, meine Einsätze habe ich gemacht. Mein kleiner Plastikeimer mit der Aufschrift „Banditenfutter“ ist noch gut mit 50-Cent-Münzen gefüllt.
Ich bin im Aquamarin Casino Seevetal im niedersächsischen Hittfeld. Das Casino liegt am riesigen Parkplatz eines Supermarkts. Die Fenster des wuchtigen Backsteinbaus sind mit Folien beklebt, auf denen ein Mann voller Euphorie nach Münzen taucht. Auf einer Tafel steht, dass Donnerstag Casinotag ist und es jeden Sonntag ein Kuchenbuffet gibt. Heute ist Freitag.
Meine Erfahrung mit Casinos beschränkt sich auf einen Besuch in der Hamburger Esplanade. Das war vor etwa sieben Jahren. Ich habe also keine genauen Vorstellung, was mich in der Spielbank des 5.600-Seelen-Ortes erwartet. Etwas überrascht bin ich dann, dass es hier keine Croupiers gibt – dafür blinkende Automaten und Touchscreens.
Ein Mann in den Fünfzigern in weißem Hemd und weinroter Krawatte führt mich herum und erklärt mir geradezu fürsorglich die Automaten. Unter den armlosen Banditen sei „The Mummy“ sein Favorit. Da gucke er schon mal den Gästen beim Spielen über die Schulter. Gerade laufen ein paar Käfer über die Bildschirme. Die Frau auf dem Hocker drückt stoisch auf den Knöpfen herum. Ich verstehe das Spiels nicht und so zieht es mich zum Roulette. Das kenne ich.
Unter zwei überdimensionierten Käseglocken befinden sich ein roter und ein silberner Kessel. Im Oval drumherum sind Monitore angeordnet. Von hier aus können Einsätze abgegeben werden. Ich lasse mich auf einem kleinen gepolsterten Stuhl nieder und zahle zehn Euro ein. Neben mir sitzt eine Frau in rotem Wollblazer, sie trinkt Weißwein und raucht wie ein Schlot. Gebannt schaut sie abwechselnd auf ihren Bildschirm, dann auf die eine Videoanzeige an der Wand, auf der die Einsätze der anderen Spieler zu sehen sind. Ob sie gewinnt oder verliert, lässt sie sich nicht anmerken.
Ich beginne ohne Strategie, setze auf Geburtstage meiner Familie und Freunde. Ich will behutsam anfangen und mich an das Spiel herantasten. Erstaunlicherweise läuft es ganz gut. Bald habe ich meinen Einsatz verdoppelt, dann vervierfacht. Nach jedem Glückstreffer ist mir ein wenig nach Jubeln zumute. Doch irgendwie sind Emotionen hier deplatziert. Hier freut sich niemand so richtig. Vielleicht ändert sich das ja, wenn ich mit jemandem ins Gespräch komme, mich mit anderen Spielern solidarisiere.
Ein alter Mann hat direkt neben mir Platz genommen. Unaufhörlich zappelt er mit seinem linken Bein auf und ab. Ihm läuft die Nase, seine Augen tränen und er raucht in einer Tour. Er füttert den Automaten mit Scheinen. Fast das gesamte Spielfeld ist mit seinen Chips bedeckt, kaum eine Zahl hat er ausgelassen. Pro Spielrunde setzt der Mann um die 20 oder 30 Euro ein.
Ich will mir etwas zu trinken holen und biete ihm an, ihm etwas mitzubringen, wenn er kurz auf meinen Tisch aufpasst. Er hätte gern eine Cola ohne Eis mit Zitrone. Als ich zurückkomme frage ich ihn nach seiner Strategie. Für einen kurzen Augenblick lösen sich seine Augen vom Bildschirm. Er spielt Serie, sagt er, vorgegebene Setzvarianten, die er nach Belieben variiert.
Von nun an lässt er mich gelegentlich an seinem Spiel teilhaben. Meistens indem er sich ärgert. „Mmpf“, sagt er dann oder er atmet schwer aus. Wenn ich mich über einen Gewinn von zehn Euro in seine Richtung freue, lächelt er.
Ein Mann kommt hinzu, gibt meinem Nachbarn einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und sagt: „Na, Opa. Spielst du wieder deine Weihnachtsserie?“ Als ich ihn fragend anschaue, erklärt er mir: „Ich kenne ihn seit Jahren. Er setzt immer auf die 24.“ Auch der Neuankömmling ist langjähriger Stammgast im Casino, wie er mir verrät. Er stellt sich als Mohammed vor und lacht über meine niedrigen Einsätze. „Wenn ich spiele, setze ich immer 300 Euro ein und verlasse das Casino oft mit einem Gewinn um die 2.000 Euro“, sagt er.
Dann bietet er an, mir bei meinem Spiel zu helfen. Auch ich sollte auf Serien setzen. Als ich nicht gleich kapiere, was ich machen soll, übernimmt Mohammed kurzerhand meinen Tisch. Nach wenigen Runden ist mein Spielkonto um 15 Euro geschrumpft. Mein Coach lacht. Manchmal funktioniere das System eben nicht. Ob ihm das Spielen Spaß mache, frage ich ihn. „Nicht direkt“, antwortet er. „Es ist vielmehr eine Sucht – die Sucht nach mehr.“
Ich will wieder nach Bauchgefühl spielen, aber auch das versagt gerade seinen Dienst. Also lasse ich mich vom Automaten auszahlen. Münze für Münze rasseln die verbliebenen 40 Euro in meinen Eimer. Nun will ich den armlosen Banditen eine Chance geben. „The Mummy“ ist noch immer besetzt, aber auch viele der anderen Automaten werden inzwischen bespielt. Ich suche mir einen mit Gewinnchance auf den „Niedersachsen Jackpot“ aus. Doch nachdem ich 50 Cent eingeworfen habe, passiert nichts. Der Automat hat mein Geld gefressen und spuckt es auch nach Gerüttele nicht aus.
Also zurück zum Roulettetisch. Dieses Mal habe ich Probleme, einen Platz zu finden. Ich setze mich neben eine Gruppe Jugendlicher. Während das Mädel in pinkfarbener Kapuzenjacke abwechselnd auf schwarz und rot setzt, diskutieren die Jungs über die intelligenteste Strategie. Ich wünsche mir meinen alten Sitznachbarn zurück. Der sitzt immer noch auf seinem alten Platz – inzwischen mir gegenüber. Seine Cola hat er halb ausgetrunken.
Am Ende des Abends will ich noch mal was riskieren. Kurz blitzt mir der Gedanke durch den Kopf, mein komplettes Budget auf rot oder schwarz zu setzen. Stattdessen lege ich zehn Euro auf schwarz, fünf auf ein Viererfeld, fünf auf eine Querspalte. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Im Vergleich zu meinen vorherigen 50-Cent-Einsätzen ist das sehr viel Geld für mich. Doch ich habe Glück und gewinne in einem Rutsch mehr als am ganzen Abend zusammen.
Ich schaue zu Mohammed herüber, der an der Bar sitzt und sich im Fernsehen Tennis anschaut. Jetzt habe ich eine Ahnung, was er mit „Lust auf mehr“ meinte. Ich wüsste auch gerne, ob ich meinen Gewinn von 60 Euro noch vergrößern kann. Aber ich kann widerstehen. Nicht zuletzt, weil ich aus Hittfeld auch wieder zurück nach Hamburg kommen muss.
Am Ausgang werde ich von einem Casinomitarbeiter und einem Taxifahrer gefragt, ob ich alles verspielt hätte. „Nein, ich habe sogar 60 Euro gewonnen“, antworte ich und freue mich – dieses Mal auch ein bisschen euphorischer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter