Ehec-Erreger breitet sich aus: Experten sind ratlos
Bislang gibt es mehr als 460 bestätigte Ehec-Erkrankungen und Verdachtsfälle in Deutschland. Die Ursache ist weiter unklar. Bauern fühlen sich durch Spekulationen zu unrecht beschuldigt.
BERLIN dpa | Der lebensgefährliche Ehec-Erreger breitet sich aus: Mittlerweile gibt es auch in immer mehr südlich gelegenen Bundesländern bestätigte Erkrankungen und Verdachtsfälle. Nach einem Bericht der Leipziger Volkszeitung sind auch in Leipzig Ehec-Verdachtsfälle registriert worden. Diese sollen aber nicht unbedingt in Zusammenhang mit dem aktuellen Ausbruch stehen.
Das zuständige Robert Koch-Institut (RKI) geht von weiteren Erkrankungen in Deutschland aus. "Wir müssen auch klar sagen, dass wir mit Todesfällen rechnen müssen", sagte RKI-Präsident Reinhard Burger am Dienstag in Berlin. Die Infektionsquelle sei weiter unklar.
Durch den Erreger wurden wahrscheinlich bereits zwei Frauen getötet. Sie litten beide vor ihrem Tod an Durchfall. Ob sie den gefährlichen Erreger in sich trugen, ist noch unbestätigt. Beide Frauen erkrankten in Norddeutschland. Hingegen war die Ehec-Infektion nicht, wie zunächst vermutet, die Ursache für den Tod einer über 80-jährigen Frau aus Schleswig-Holstein. Dies sagte Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) am Mittwoch in Kie.
Die Zahlen von Erkrankten und Infizierten sind seit Mitte Mai sprunghaft angestiegen. Eine Umfrage der Nachrichtenagentur dpa ergab, dass es bislang mehr als 460 bestätigte Ehec-Erkrankungen und Verdachtsfälle gibt.
"Kein Anlass zur Hysterie"
Am Mittwoch will sich auch der Gesundheitsausschuss des Bundestags mit dem Thema befassen. Die Vorsitzende Carola Reimann (SPD) sagte der Braunschweiger Zeitung: "Es gibt keinen Anlass zur Hysterie, aber dass wir es jetzt mit den ersten Todesfällen zu tun haben, erfüllt einen natürlich mit Sorge."
Besonders viele Ehec-Patienten registrierten die Behörden in Schleswig-Holstein. Dort sollen etwa 100 Menschen mit dem Erreger infiziert sein, noch einmal so viele Proben werden noch geprüft. "Diese Entwicklung übersteigt jedes historische Maß", sagte der Mikrobiologe Werner Solbach vom Uniklinikum Schleswig-Holstein. Auch Hamburg meldete bislang rund 100 nachgewiesene Fälle.
Hunderte weitere - teils noch unbestätigte - Ehec-Patienten gibt es in Niedersachsen, Bremen, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg und zuletzt Sachsen.
Das RKI spricht zudem von mehr als 80 besonders schweren, sogenannten HUS-Fällen. Das hämolytisch-urämischen Syndrom ist charakterisiert durch akutes Nierenversagen, Blutarmut durch den Zerfall roter Blutkörperchen und einen Mangel an Blutplättchen. Laut RKI hat es so viele Fälle in so kurzer Zeit noch nie gegeben.
"Auf Gemüse muss niemand verzichten"
Das aggressive enterohämorrhagische Escherichia coli-Bakterium (Ehec) treibt seit Mitte Mai in Deutschland sein Unwesen. Die Erkrankung geht mit Durchfall, Erbrechen und Übelkeit einher. Der Erreger kann zu bleibenden Nierenschäden und zum Tod führen.
Die massive und plötzliche Verbreitung des Keims macht die Experten ratlos. Sie vermuten, dass ungewaschenes, mit Gülle gedüngtes Gemüse der Grund für die Ansteckung sein könnte. Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) beschwichtigte indes Ängste der Verbraucher. "Auf Gemüse muss niemand verzichten", sagte sie der Passauer Neuen Presse. Vor dem Verzehr sollten aber Hygiene-Empfehlungen wie Waschen oder Schälen beachtet werden.
Angesichts der schnellen Ausbreitung des gefährlichen Ehec-Keims fordert der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach einen Krisenstab. Die Öffentlichkeit müsse flächendeckend informiert werden, wie man sich am Besten schützt, sagte er dem Tagesspiegel.
"Abwegig, Gemüse mit Gülle zu düngen"
Die heimischen Bauern fühlen sich hingegen zu Unrecht beschuldigt. "Da wird gemutmaßt, dass Ehec-Erreger über Gülle auf das Gemüse gespritzt worden sei. Dabei ist es total abwegig, Gemüse mit Gülle zu düngen", sagte ein Sprecher der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen in Münster. "Gülle wird nur auf Getreide-, Mais- oder Rapsäckern versprüht, aber noch bevor ausgesät wird."
Licht ins Dunkel könnte jedoch eine ungewöhnliche Häufung von Fällen in Frankfurt bringen. 19 Ehec-Betroffene hatten dort in den Kantinen einer Unternehmensberatung gegessen. Schuld sei wahrscheinlich eine belastete Lebensmittellieferung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“