Editorial: Vollgas statt Verkehrswende
Wer in Stuttgart spazierengeht,hat bisweilen den Eindruck, dass in der Stadt mehrAutos als Fußgänger:innenunterwegs sind. Die Pointe?Trotz eines absurd anmutenden Pkw-Aufkommens ist derderMotorisierungsgrad inder Landeshauptstadt fürbaden-württembergische Verhältnisseimmer noch unterdurchschnittlich. 2007 hat dasdas Statistische Landesamt prognostiziert, wie sich dieAutomenge im Südwesten bis 2025 entwickeln wird – undwie üblich hat The Länd alleErwartungen übertroffen. Imdrastischsten Szenario rechnetedas Landesamt damals miteiner Zunahme von 13,1 Prozent, was knapp 6,3 MillionenPkw bedeuten würde. Dochschon heute sind es 6,8 Millionen. Auf 1.000 Menschen in Baden-Württemberg kommen gegenwärtig 754 Kraftfahrzeuge.
„Seit Gottlieb Daimler und Carl Benz den ja auch nicht gerade umwerfenden Einfall hatten, den von Otto erfundenen Motor auf eine Kutsche zu montieren, hat die [Auto-]Industrie nichts zustande gebracht, was als innovativer Beitrag zur Mobilität des Menschen gelten könnte“, stellte einmal Hermann Gremliza fest. Und wie in Kontext bereits mehrfach berichtet, meinte sogar Winfried Kretschmann einst: „Weniger Autos sind natürlich besser als mehr.“ Das war im April 2011, kurz vor seinem Amtsantritt als erster grüner Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik. Statt weniger Autos, moniert nun der Verkehrsclub(VCD) Baden-Württemberg,sind es unter KretschmannsÄgide gut eine Million mehrgeworden.
Derweil gibt die Deutsche Bahn ein ähnlich trauriges Bild ab wie die ausgetrockneten Bäche im Botnanger Wald. Der S-Bahn-Verkehr in der Region Stuttgart versinkt auf unabsehbare Zeit im Chaos. Und um Störungen des Autoverkehrs im Keim zu ersticken, erließ die Verwaltung der Landeshauptstadt unter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) vor Kurzem eine Allgemeinverfügung gegen Straßenblockaden mit Klebeaktionen. „Die Versammlungsfreiheit gerät unter Druck“, schreiben die Juristen Andreas Gutmann und Tore Vetter. Dabei könnten solche Aktionen des zivilen Ungehorsams doch „als Signale eines demokratischen Aufbruchs verstanden werden, als Signale einer Zivilgesellschaft, die sichnicht länger abfindet mit derlähmenden Untätigkeit undResignation im Angesicht derKlimakatastrophe“. Die gegenwärtig mit voller Wucht eintretenden Folgen der Erderhitzungverdeutlichen die Dringlichkeit.
Eine Stimme, die fehlt inder Klimadebatte, ist die vonWinfried („Winnie“) Wolf, derim Mai verstorbene Autor undAktivist. Er durfte für sichinAnspruch nehmen, bereits1986 vor der Klimakatastrophe gewarnt zu haben. SeineAussage damals: Die einzige Alternative zum Auto ist kein Auto. Sein Freund und Mitstreiter Volker Lösch hat daranerinnert, als er Leben und Werkdes 74-Jährigen beim Abschiednehmen im WürttembergischenKunstverein würdigte. „Winnie“sei „mehrere Menschen ineinem“ gewesen, sagte er, roterMaulwurf („red mole“), linkerJournalist, Bücherschreiber,Demoredner, Aufrufunterschreiber, Netzwerker, Workaholic, guter Vater, Kontext-Autor. Löschs bewegende Redegibt‘s hier in gekürzter Form.
Zum Abschied gekommen waren 200 Feiergäste – Wolfwünschte sich keine Trauer–,unter ihnen auch Ex-Linkenchef Bernd Riexinger. Siedurften sich gut unterhaltenfühlen. Organisiert hatten dieS-21-Kämpen Tom Adler, JoeBauer und Werner Sauerborn,die trotz Überlängen bei einzelnen Redebeiträgen feststellen mussten, dass ihre beileibenicht im jugendlichen Alter befindlichen Gäste bei drückender Hitze dreieinhalb Stundenlang lockerer Laune waren.
Für Kontext gilt weiter, was wir zwei Tage nach Wolfs Tod, geschrieben haben: LieberWinnie, egal, wo du jetztbist:Misch die Leute auf! Wirwerden dich vermissen. Schickuns ein Zeichen, wenn du einen neuen „red m ole“ entdeckst.
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