Editorial: Zeit und Not
Von unserer Redaktion„Sind Sie eigentlich neidisch auf Verdi?“ Mit dieser Frage brachte Bernd Ulrich jüngst Vertreter:innen der Letzten Generation in Stuttgart aus dem Konzept. Der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“ war zu Vortrag und Gespräch im Haus der katholischen Kirche, eingeladen hatten das Fritz-Erler-Forum und die Gruppe Emanzipation und Frieden, durch den Abend führte unser Kollege Minh Schredle. Ob in der Liebe oder auf Arbeit – laut Ulrich müsste eigentlich allen Erwachsenen klar sein, dass ohne die Bereitschaft, sich auch mal einzuschränken, nur schwer etwas erreichbar ist. Entsprechend ärgert er sich über die allergischen Reaktionen auf jede Art von Verzichtsdebatte, denn mit Blick auf die drohende Menschheitskatastrophe namens Klimawandel dürfte es schwierig werden, die Kurve zu kriegen, ohne kürzer zu treten. Und er meint, in der Politik sei die Ansicht verbreitet, man dürfe den Deutschen auch nicht zu viel wegnehmen, weil ja alle wüssten, zu was sie fähig sind. Ihnen den SUV zu lassen, werde da mitunter als „vorauseilender Antifaschismus“ interpretiert.
Da an dem Abend des Vortrags bereits bekannt war, dass Verdi und EVG am nunmehr vergangenen Montag mit einem 24-stündigen Warnstreik den öffentlichen Verkehr lahmlegen werden, erkundigte sich Ulrich nach der Gefühlslage der zuhörenden Vertreter:innen der Letzten Generation – da diese ja stets nur lokal den Verkehr blockieren, Verdi und EVG nun fast im ganzen Land. Nein, hieß die Antwort, sie seien solidarisch mit den Gewerkschaften, wie im Übrigen auch Fridays for Future.
Und wie lief der jüngste Warnstreik, den viele Medien im Vorfeld Mega-, Riesen- oder unsinnigerweise Generalstreik nannten? Es gab gar kein Megariesenchaos, sondern es fuhren einfach keine Busse und Züge, Flugzeuge blieben am Boden, die Straßen waren eher leer, dennoch hämmerte kein wütender Mob an Bahnhofs-, Bus- oder Kita-Türen.
Nicht gerade für Freudentaumel sorgte die Entscheidung der Stadt Stuttgart, das kostenlose „Umsonst & Draußen“-Festival nicht zu genehmigen, aus Naturschutzgründen (in der gefühlt zu 90 Prozent aus Beton bestehenden Hauptstadt der enthemmten Bauwut wären drei Tage Party wohl einfach zu viel gewesen). Während lange unklar war, ob ein Ausweichort gefunden werden kann, gab es am Sonntag eine gute Nachricht: Auf der Festwiese an der Krehlstraße im Stadtteil Vaihingen werden Anfang August wieder Bands spielen. Umsonst und draußen. Sogar die Stadt hat grünes Licht gegeben.
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