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Archiv-Artikel

Editorial

„Nach dem 11. September wird nichts mehr so sein wie vorher“ – dieser Satz war in den Wochen nach den verheerenden Anschlägen auf New York und Washington vor fünf Jahren oft zu hören. Seither hat sich die Wahrnehmung ausdifferenziert: Während für die einen die Gefahr des islamistischen Terrors, dokumentiert durch die Anschläge in Djerba, Istanbul, Madrid und London, deutlich näher gerückt ist, fürchten die anderen mehr die Folgen des von den USA ausgerufenen „Kriegs gegen den Terror“.

„9/11“ hat die Weltpolitik verändert – und die intellektuellen Debatten neu ausgerichtet. Die gekaperten Flugzeuge, die in die Twin Towers und ins Pentagon einschlugen, waren jener „katalytische Moment“, den die Neokonservativen des „Project for a New American Century“ Jahre vorher antizipiert hatten, um ihre außenpolitischen Konzepte umsetzen zu können. (Nicht zuletzt deswegen hängen in den USA 36 Prozent der Bevölkerung der abwegigen Vermutung an, die Bush-Regierung selbst habe die Anschläge unterstützt.)

Doch fünf Jahre nach 9/11 scheinen die militärisch-missionarischen Ideale der Neocons gescheitert zu sein. Von einer geglückten Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens redet drei Jahre nach Beginn des Irakkrieges kaum noch jemand. In Afghanistan reüssieren die Taliban, der Irak versinkt täglich mehr in einem komplexen Chaos der Gewalt, der Konflikt zwischen Israel und Palästina scheint unlösbarer denn je, die Zukunft des Libanon ist ungewiss, der Konflikt mit dem Iran vor der Eskalation, der Islamismus wird in der arabischen Welt täglich populärer. Der Krieg gegen den Terror, den George W. Bush vor fünf Jahren erklärte, ist gescheitert.

Seine Folgen allerdings sind spürbar: Menschenrechtsverletzungen, wie etwa in Guantánamo, werden von der US-Regierung nicht mehr verschämt verschwiegen, sondern offensiv verteidigt. Eine ganze Weltregion fühlt sich unter Generalverdacht und ins Abseits gestellt. Datenschutzrechtliche Bedenken gegen staatliche Überwachung scheinen Relikte einer vergangenen Zeit.

Längst haben andere Bilder jene des 11. September überlagert: Abu Ghraib, Guantánamo, aber eben auch die Toten im Hauptbahnhof von Madrid und der Londoner U-Bahn, die zerbombten Kinder im Libanon, die Enthauptungen westlicher Geiseln im Irak haben neue Albtraumszenen produziert. Fortsetzung täglich.

Mit diesem taz-Dossier versuchen wir, den Veränderungen und Verwerfungen auf die Spur zu kommen.