■ Keine Verwirkung von Grundrechten bei zwei Neonazis: Ebenso bequem wie weise
Mit seiner Weigerung, dem Antrag des (damaligen) Innenministers Seiters aus dem Jahr 1992 zu folgen und zwei verurteilten Neonazis die Ausübung der in Artikel 18 des Grundgesetzes aufgeführten Grundrechte zu untersagen, hat das Bundesverfassungsgericht sich auf ebenso elegante wie bequeme Art aus der Affäre gezogen. Erst ließ es denn Antrag schmoren, dann endlich, am 18.Juni dieses Jahres, teilte Jutta Limbach, die Präsidentin des Gerichts, dem Innenministerium mit, er sei „offensichtlich nicht hinreichend begründet“.
Beide Neonazis waren 1992 zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, die aber zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Sozialprognose hatte in beiden Fällen gelautet, daß die Täter in Zukunft ihre rechtsextremistische Gesinnung nicht mehr auf strafbare Weise vertreten würden. Diese Prognose scheint sich, falls die Expertenmeinung zutrifft, bewahrheitet zu haben. Und an diese Prognose des Strafgerichts sah sich das Verfassungsgericht bei seinem eigenen Entscheid gebunden.
Indem sie so urteilten, entbanden sich die Karlsruher Richter von der peinlichen Verpflichtung, der Frage nachzugehen, wie sich eigentlich die Sozialprognose eines Strafurteils zu der Prognose verhält, die die Verfassungsrichter über das zukünftige Verhalten derer abgeben müssen, deren Grundrechte sie verwirken sollen. Auch blieb ihnen erspart, zu definieren, was eigentlich jemand tun muß, um „Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu mißbrauchen“. Der „Mißbrauchs“-Begriff des gemeinen Rechts wäre hierzu untauglich gewesen, und was rechtlich „Kampf“ bedeutet, ist auch nicht so ganz einfach zu definieren.
Bislang hat das Bundesverfassungsgericht noch niemand die in Artikel 18 aufgeführten „Kommunikationsgrundrechte“ entzogen – und dies aus gutem Grund. Der Artikel 18 ist rechtsdogmatisch unklar, praktisch unbrauchbar und politisch schädlich. Er kam ins Grundgesetz, weil dessen Väter aus der Weimarer Katastrophe hatten lernen wollen und figurierte während des Kalten Krieges als Baustein für die stolze, aber mittlerweile baufällige Zwingburg „Streitbare Demokratie“. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, daß die Strafjustiz, sofern sie nur in Aktion tritt, ganz gut mit dem Teil der Aufgabe fertig werden kann, der dem Staat bei der Verfolgung antidemokratischer Aktivitäten obliegt. Für Artikel 18 aber sollte die berlinische Verhaltensregel lauten: Nich mal injorieren. Christian Semler
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