EVO MORALES VERSPRICHT EINEN ECHTEN POLITIKWECHSEL IN BOLIVIEN : Andin-amazonischer Kapitalismus
Seinen doppelten Amtsantritt hat Boliviens neuer Präsident Evo Morales gekonnt inszeniert: Vor der geschichtsträchtigen Kulisse von Ruinen aus der Vorinkazeit ließ er sich zwei Befehlsstöcke reichen, und bei der Vereidigung im Parlament kam er wie schon bei seinen Auslandsreisen ohne Anzug und Krawatte aus. Mit dieser Symbolik unterstricht Morales, was er in seinen Reden nicht müde wird zu betonen: dass er tatsächlich eine andere Politik anstrebt, einen Weg aus der neokolonialen Abhängigkeit seines Landes.
Dieses Signal ist umso wichtiger, als es sich beim viel beschworenen Linksruck in Lateinamerika um ein durchaus widersprüchliches Phänomen handelt. Zwar ist klar, dass das Wahlvolk nach zwei „verlorenen Dekaden“ eine Abkehr von neoliberaler Politik wünscht. Entsprechend haben Parteien und Kandidaten mit einer progressiven Rhetorik die meisten Wahlen seit 1998 für sich entscheiden können. Doch in der Praxis setzte bald Ernüchterung ein – besonders in Ecuador, Brasilien und Uruguay. Die Konfliktbereitschaft, die langfristig für eine Umverteilung des Reichtums und für eine Abkehr von einem desaströsen Wachstumsmodell nötig ist, legen nur wenige Politiker an den Tag.
Der Bruch von Wahlversprechen fällt umso leichter, je schwächer der Druck von unten ist. In dieser Hinsicht stellt Bolivien einen bemerkenswerten Sonderfall dar: Die sozialen Bewegungen mit ihrem gesunden Misstrauen gegenüber den Parteien haben nicht nur bisher schon Änderungen in der Energie- und Wasserpolitik erzwungen, sondern auch Morales’ Wahlsieg erst ermöglicht.
Evo Morales hat dies begriffen, ohne sich gleich mit der einheimischen Oligarchie anzulegen. Im Gegenteil: Sein Vize Álvaro García Linera setzt als Chefideologe des „andin-amazonischen Kapitalismus“ demonstrativ auf Ausgleich. So könnte es die Linke sein, die das vielfach gespaltene Bolivien in ruhigere Fahrwasser steuert. Eine Überwindung der sozialen Apartheid durch echte Teilhabe der Bevölkerung: Das Projekt des Evo Morales und seiner Basis hat jede Unterstützung verdient.
GERHARD DILGER