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EUROLAUL: DIE KRITIK AN RALPH SIEGEL IST HEUCHELEIEin Anruf in Lettland genügt

Das ist nachtreterisch: Ralph Siegel jetzt die Schuld zu geben, dass Deutschland das zweitschlechteste Ergebnis seiner Grand-Prix-Geschichte nur erreichte. Wer hat denn bei der deutschen Vorauswahl die Bremerin gewählt? Eben jene, die jetzt die Welt nicht mehr verstehen, stimmten mit erklecklichem Vorsprung für May, gegen Joy Fleming, die Kelly Family und andere, die zwar gut performen können, aber eben nicht blind sind.

Gewählt und jetzt europaweit bestraft wurde eine Komposition, wie sie deutscher nicht sein könnte – von weinerlicher, Mitleid heischender Art. Dass alle anderen Europäer darauf nicht können – man hätte es ahnen dürfen. Österreich, Schweiz, Belgien, Spanien verschmähten Corinna May mitleidlos, alles Länder, die extraordinäre Entertainer wie Guildo Horn, Stefan Raab oder Michelle mit Höchstwertungen versahen.

Nicht weil sie blind ist, denn das hat ohnehin niemand gewusst. Sondern weil ihr Lied mehr eine flehende Animation war denn eine flirrende Verführung wie die der Frauen Lettlands, Maltas, Großbritanniens und Frankreich. Siegel und seine Interpretinnen: alle Jahre wieder geheimnislos und schwer auf allzu dröhnende Weltumarmung getrimmt. Das war kein Pop, sondern letztlich hektisches Trara in der ästhetischen Tradition teutonischer Marschmusik. Kurzum: Darauf hat Europa keinen Appetit. Und das ist auch sehr okay so.

Corinna May wird ihren Weg gehen, ob als Sängerin bei Galas oder in ihrem Brotberuf als medizinische Bademeisterin. Siegel hat beteuert, nie mehr anzutreten. Das sagt er seit 1982 jedes Jahr und kann es doch nicht lassen. Die Crux aber ist: In Deutschland gibt es kaum inspirierte Popautoren, die sich auf das Leichte verstehen, das so schwer zu machen sei. Da ist das Debakel von Tallinn nur zu plausibel. Siegel ist nur der Mann für die heuchlerischen Anwürfe. Ein Anruf in Lettland genügt: Die wissen dort, wie es geht. JAN FEDDERSEN

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