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EUROFACETTENDie neuen Citoyens

■ Zu den Chancen von multi-ethnischen „Communities“

Natürlich gibt es jenseits aller Verschiedenheiten gemeinsame Ursachen der Aufstände in Brüssel, Paris, Berlin und Brixton. Es ist vor allem ein Großstadtphänomen und kein kultureller Konflikt zwischen ethnischen Minderheiten. In allen Fällen ist es eine entfremdete Jugend, die auf die Straße geht. Schon bei den Aufständen 1981 und 1985 in Birmingham war es nicht in erster Linie eine ethnisch bestimmte Gruppen, die auf die Straße gegangen ist. Viele weiße Kids waren dabei. Es wird zu einem ethnischen Problem, weil zufällig (beziehungsweise nicht so zufällig) die Zahl von solcherart entfremdeten Jugendlichen in bestimmten ethnischen Minderheiten besonders hoch ist. Ökonomische Entrechtung, enttäuschte Erwartungen, mangelnde Zukunftsaussichten, etc. — all das betrifft die zweite Generation der Immigranten stärker als einheimische Jugendliche. In Gebieten wie Brixton, wo die weißen Jugendlichen in der gleichen Situation stecken, passieren auch die gleichen Aufstände. In den Berliner Häuserkämpfen war das nicht anders. In Schweden sind es nicht die Einwanderer, die auf die Straße gehen, sondern einheimische Skinheads. Es wird oft unterschieden zwischen zwei Modellen der Integration. Das britische, also die Bildung von relativ selbstbewußten „Communities“, und das klassisch-französische, daß kulturelle Verschiedenheit möglichst vergessen machen will. Ich denke nicht, daß eine multikulturelle Gesellschaft ohne einen bestimmten Grad an Community stabil existieren kann. Natürlich besteht die Gefahr einer Ghettobildung, aber in Großbritannien ist es nicht dazu gekommen. Die Grenze um die Community hat sich als sehr flexibel und durchlässig erwiesen, sie ist keine Mauer. Die Community liefert eher eine absichernde Basis, einen sicheren Hafen, aus dem heraus man besser die Möglichkeiten der weißen Gesellschaften nutzen kann. In sich sind die Communities sehr weit gestaffelt, sie gleichen eher einer Skala von Abstufungen als klar getrennten Kategorien. Wir haben das Phänomen von asiatischen Gruppen, deren Mitglieder sich quer zu allen Communities rekrutieren: Pakistanis, Indier, Bangladeshis, Moslems, Hindus. Meist sind dies Gruppen der extremen Linken. Oder es gibt schwarze Gruppen. Also ganz verschiedene Typen von Gruppen-Selbstverständnissen. Die Jugendlichen experimentieren mit Identitäten, nicht selten nach dem Prinzip des trial-and-error.

In Birmingham hat sich die Kooperation zwischen dem City Council und den Vertretern der Communities seit den Aufständen sehr verbessert. Birmingham war die erste Stadt mit gemischtem Religionsunterricht, Baugenehmigungen für Moscheen werden flexibel gehandhabt. Nur hat die Lokalverwaltung keinen Zugriff auf den Gesundheits- und Polizeibereich. Die Aufstände in den 80ern waren aber ebenso sehr eine Folge der Polizeieingriffe wie der sozialen Situation. Allerdings haben manche Communities keinen Zugang mehr zu den Jugendlichen, besonders in der afro- karibischen Community. Bei den Asiaten ist es genau umgekehrt. Die moslemisch-asiatische Community Großbritanniens hat die geringste Kriminalitätsrate — sie liegt sogar weit unter britischem Durchschnitt. Die Rushdie-Affäre und die Golfkrise hatten großen Einfluß auf die Communities: Der Zusammenhalt der moslemischen Community hat sich verstärkt. Junge Moslems wurden mobilisiert und zu moslemischen Organisationen herangezogen. Eine sehr positive Entwicklung, finde ich. Die Rushdie-Affäre hat also gezeigt, inwieweit die zweite Generation der Einwanderer schon ernstzunehmende Citoyens geworden sind. Jörgen Nielsen

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