EUROFACETTE: Hunger und Historie
■ Europa erkennt die völkerbewegende Dimension der Not noch immer nicht
Der sogenannte „alte Kontinent“ leidet unter einer merkwürdigen Schizophrenie. Seine Historiker sind Weltspitze, Heere von Forschern finden aus winzigsten Details heraus, was die Welt bewegt und die Geschichte bestimmt hat. Doch dann herrscht totale Unfähigkeit, Schlüsse für das Handeln daraus zu ziehen.
Römische Historiker haben schon seit der Antike, deutsche, spanische, französische und englische seit Beginn der Neuzeit die Völkerwanderung des Altertums in allen Einzelheiten rekonstruiert, analysiert und danach Berge von Publikationen produziert. Doch aus den Fehlern der damaligen Herrscher des Okzidents zu lernen weigern sich die heutigen europäischen Potentaten beharrlich.
Sicher: daß da eine Gefahr lauert, sehen die Europäer schon. Daher ja die fabelhafte Idee der „Festung Europa“ mit einer Art chinesischen Mauer irgendwo von Danzig über Prag nach Syrakus. Auch daß der Druck von außen etwas mit Not zu tun hat, ist manchen schon aufgegangen. Doch diese Not wird in der Regel als selbstverschuldeter Zustand der Armen gewertet, die entweder nicht die richtige Religion hatten und statt dessen dem (vom Westen erfundenen) Marxismus anhingen, oder die sich wider besseres Wissen weigern, in ihren Ländern englischen Geschäftssinn, italienische Kreativität und deutsche Gründlichkeit zum Lebensprinzip zu machen, oder die, geborene Faulpelze, den Reichen ihr Erworbenes wegnehmen wollen. Das alles täuscht vor, man brauche im Osten und Süden nur das System zu ändern, und schon blüht dort alles.
Um das Schlimmste abzuwehren, greifen die Politiker auf das ihnen bewährt erscheinende, in Wirklichkeit immer gescheiterte Hausmittel von Zuckerbrot und Peitsche zurück. Etwas Hungerhilfe, immer versehen mit großer Absenderangabe (für den Fall, daß es doch knallt, hat man dann einen Bonus), und gleichzeitig scharfe Gesetze für jeden, der über die Mauer der Festung klettern möchte. Mit derlei System sind seinerzeit schon die Römer gescheitert.
Was den Europäern noch immer nicht aufgeht: Der Hunger ist in vielen Ländern des Ostens und Afrikas schon so groß, daß der Körper keine Fata Morgana mehr braucht, um sich in Bewegung zu setzen. Die Füße machen sich von alleine auf und tragen den Körper einfach mit. Es spielt keine Rolle mehr, wenn Verstand und Erfahrung sagen: Wir werden umkommen. Die Völkerwanderung im Altertum ist so entstanden — trotz aller Toten, die die Einwanderer von damals hinnehmen mußten.
Der Westen sieht verwundert und entsetzt, daß die Menschen auch dann noch nach Westen drängen, wenn beträchtliche Mengen von Hilfsgütern ankommen und sich die unterentwickelten Regierungen westlichem Know-how öffnen. Tatsache ist, daß es da bereits einen qualitativen Sprung in vielen unserer ausgemergelten Länder gegeben hat: Der Drang hin zu den Reichen ist zu einer Art Automatismus geworden. Der verheißene Kontinent lockt wie einst das Gelobte Land die Juden. Daß der Westen mit seinem Konsumkult und seinem angeblich Besitz des Rezepts für Reichtum und Wohlstand diesen Sog selbst hervorruft, erkennen die meisten; doch nur wenigen dämmert, daß es kein Mittel zum Gegensteuern gibt.
Einige Kommentatoren (jene der humanitären Art, die man schätzen mag, die aber auch ihre Geschichtslektion noch nicht ganz gelernt haben) prophezeihen: Solange der Westen so sichtbar reicher ist als die Armen des Ostens und des Südens, wird der Druck nicht nachlassen. Logische Konsequenz: der Westen muß sein Niveau durch Vergabe seiner Reichtümer in die schwachen Länder so herunterschrauben, daß die Attraktion des Okzidents verschwindet — nur so kann er wenigstens physisch überleben, ansonsten wird er einfach überrannt. Ich bezweifle, daß diese Strategie noch klappt. Die Kampagne „Wir haben doch selbst eine riesige Wirtschaftskrise, was wollt ihr von uns?“, mit der die Italiener vor vier Monaten während der Albaner-Ströme hausieren gingen, hat nicht einen Ost-Menschen von seinem West-Drang abhalten können. Man glaubt dem Westen nicht mehr, daß er irgendwann überfordert sein könnte.
Der Rückgriff auf die Geschichte lohnt auch hier: Die Nord- Menschen drangen auch dann noch nahezu unvermindert in den Süden ein, als vom römischen Reichtum längst nichts mehr vorhanden war, als es weder reiche Städte noch fruchtbares Land gab. Man traf auf Ruinen und Sümpfe, und trotzdem hielt der Drang mehr als vier Jahrhunderte an. Noch die fränkischen und salischen Könige fuhren nach Rom in der Hoffnung, Mitnehmenswertes zu finden.
Genauso wird die Paradies-Suche im gelobten Westen selbst dann weiterbestehen, wenn der Alte Kontinent schon lange nichts mehr herzugeben hat. Für eine Umkehr dieses Denkens gibt es derzeit nicht die geringste Chance.
Dahmil el Akaki
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen