ESSAY: Koordinaten einer neuen Welt
■ Das Ende ideologischer Großsysteme und der neue Pragmatismus
Der Kalte Krieg war bequem, die Welt gut eingeteilt. Es gab die Linke, die Rechte und die sogenannte Mitte, die Blockgebundenen und die sogenannten Blockfreien. Alle hatten sich eingerichtet. Man wußte, wer zu den Imperialisten und wer zu den Antiimperialisten zu rechnen sei, man unterschied zwischen Demokraten und Antidemokraten: Hier Opfer — dort Täter, hier die Guten — dort die Bösen. In der Ära zentralistischer Beglückungsideen herrschte der Idiotismus des Multiple Choice — das dröge Richtig/Falsch. Man sprach von der Ersten, der Zweiten und der Dritten Welt. Nun, nach dem Ende der Zweiten, der sozialistischen, bleibt der Dritten Welt noch nicht einmal der Namen. Was aber bleibt, ist die Armut der früher so klassifizierten Länder.
Die deutsche Linke ergriff in dieser Auseinandersetzung Partei, sie entschied sich — gewissermaßen mit Brecht unterm Arm — gegen „freedom und democracy“, gegen den Kapitalismus und für einen mehr oder minder humanisierten Sozialismus. Auf dieser Grundentscheidung basierte ihr stets einäugiges Engagement für Menschenrechte und Freiheit: Die Gulags wurden verdrängt, Solschenizyn rechts liegengelassen. Das war in Frankreich und auch in Italien durchaus anders, und eben deshalb steht die deutsche Linke heute schlecht da.
Die alte Weltordnung war durch Zustandekommen und Zerbrechen der Anti-Hitler-Koalition geschaffen worden. Bis an die Zähne bewaffnet grenzte man die Machtsphären ab, gegenseitige Nichteinmischung regulierte die Welt. Das erlaubte harte und verdeckte militärische Eingriffe in Panama und Chile, in Tibet, Ungarn und der Tschechoslowakei. Allerdings mußten die Interessen an den Peripherien der beiden Machtzentren immer wieder neu — oft blutig und langwierig — fixiert werden: Siehe, Vietnam, Afghanistan, El Salvador.
Politischer Sperrmüll des bipolaren Denkens
Die Zeit des Stillstandes ist unwiderruflich vorbei. Das alte bipolare Denken, das ganze Generationen von politischen Funktionären und Oppositionellen die tägliche Orientierung im Gestern erlaubte, liegt als angestaubter politischer Sperrmüll herum. Er stört.
Der Golfkrieg setzte das äußere Zeichen dieser Veränderungen. Jahrzehntelang hatte niemand die offene Annexion eines Staates gewagt, und niemand hatte „kleinere“, fortwährende Verletzungen des Völkerrechts mit einer Kriegserklärung geahndet. Seinem Charakter nach war „Desert Storm“ kein „schmutziger Krieg“ im Sinne eines unerklärten, immer schwieriger werdenden Stellvertreterkrieges, sondern eine offene, harte militärische Antwort mit dem einzigen Ziel, den status quo ante wiederherzustellen. Die UNO hatte den Krieg abgesegnet, und unter US-amerikanischer Führung trat eine völlig neuartige internationale Koalition zum Waffengang gegen einen wildgewordenen Diktator an. An Menschen und Material wurde nicht gespart. Das Ziel sollte schnell und ohne wesentliche Rücksichtnahmen und Begrenzungen der Mittel erreicht werden. Nach vier Wochen waren die Kriegsziele erreicht. Daß Saddam Husseins Macht trotz der Niederlage nicht gebrochen werden konnte, zeigt, wie gefährlich er war. Die chemischen und nuklearen Horrorfunde der UNO-Kontrollkommission, die aufgrund der Waffenstillstandsvereinbarung die Waffenarsenale des Iraks untersucht und die Zwangsabrüstung vorantreibt, rechtfertigen diesen Krieg fast täglich neu.
Kriege sind Exzesse
Doch das Strahlen der Sieger gefror bald. Ein richtiger moralischer Sieg wurde nicht errungen: Kuwait ist nach wie vor kein demokratisches Land, und Saddam Hussein behielt einen guten Teil seiner Macht, sie reichte, um die Schiiten im Süden des Iraks und die Kurden im Norden weiter zu verfolgen und zu Zehntausenden zu ermorden. Die irakische Zivilbevölkerung litt und starb weiterhin, auch waren einzelne Methoden der Kriegführung der Anti-Saddam- Koalition nicht vom internationalen Kriegsrecht gedeckt. Kriege sind immer Exzesse.
Es macht vermutlich wenig Sinn, die vielen zehntausend Menschen, die direkt oder indirekt Opfer dieses Krieges wurden, aufzurechnen gegen die Zahl der Menschen, die in Kambodscha, in El Salvador oder in Eritrea als Stellvertreter und jeweils im Namen einer sogenannten eigenen — guten — Sache starben. Jeder einzelne Tote ist ein Toter zuviel.
In der alten Weltordnung waren alte, manchmal uralte Konflikte, Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten verschnürt. Nun, da die Fesseln weitgehend zerrissen sind, brechen die Konflikte auf, bekommen Luft, entladen sich. Die Gefahr lag und liegt in einem machtpolitischen Vakuum. Das Saddam-Regime versuchte das Vakuum zu nutzen. Das wurde ihm verwehrt. Das mußte sein — auch aus Gründen der Generalprävention. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde ein sogenannter regionaler Angriffskrieg mit kriegerischen Mitteln der internationalen Völkergemeinschaft zurückgewiesen. Aggressive Machtlüstenheit auf der ganzen Welt in ihre Grenzen gewiesen. Die UNO verlor nicht an Einfluß, ihre Bedeutung nahm zu: Das zeigt die Entwicklung in Kambodscha, El Salvador und Jugoslawien. Der arabisch-palästinensisch-israelische Konflikt ist in Folge der Dynamik dieses Krieges zum ersten Mal in eine ernsthafte diplomatische Bewegungsform gebracht.
Ordnungspolitisch sah die Welt der siebziger Jahre besser aus, stabiler — jedenfalls aus der Perspektive dessen, der die nördliche Halbkugel bewohnte. Im Fernsehsessel war es nicht ungemütlich: Man konnte den Eindruck mit ins Bett nehem, daß sich Wettrüsten, Drohen und Händeschütteln wenigstens die Waage hielten und der Kalte Krieg sich langsam doch in eine einigermaßen lauwarme Koexistenz wandeln würde.
Der Westen hat seine Position ausgesessen, auch auf Kosten anderer, ökonomisch prosperiert und gewonnen. Mit der Niederlage des Sozialismus hat zugleich auch der Gedanke verloren, Gerechtigkeit über Freiheit zu stellen, ja sogar von ihr abzukoppeln. Andererseits aber ist damit nur eine utopisch aufgeladene, ideologisch total erstarrte Form des Ideals der Brüderlichkeit aus der Französischen Revolution untergegangen. Die Geschichte ist nicht zu Ende, für jedes vernunftbegabte Wesen ist erkennbar, daß in der künftigen Welt Freiheit nur möglich sein wird auf dem Boden eines Minimums sozialer und materieller Gerechtigkeit. Mit dem Zusammenbruch der einen Großideologie hat auch die andere ihre Daseinsberechtigung verloren. Und gerade daraus ergibt sich die große Chance für die Zeit nach jener epochalen Wende, die wir erleben: die großen Fragen der Menschheit pragmatisch angehen zu können.
Politische Moral und Völkerrecht
Das darf nicht mit Hauruckmethoden geschehen. Denn: Je kürzer die Zeit, die zur Erreichung eines politischen Ziels angesetzt wird, desto geringer die Chance, zu einem sinnvollen, tragfähigen Interessenausgleich zu gelangen.
Das Prinzip der Souveränität und Integrität von Nationalstaaten reduziert die Möglichkeit der inneren Einmischung entschieden. Ähnlich wie es beim Schutz der Wohnung und des Hausfriedens fast unmöglich ist, sich in die inneren häuslichen und familiären Angelegenheiten einzumischen, selbst dann, wenn alle äußeren Anzeichen auf Katastrophen deuten. Gerade deshalb sind saubere moralische Lösungen nicht möglich. Das Recht beschreibt Grenzen und gibt Möglichkeiten, Konflikte zu regulieren, es stiftet keine moralisch einwandfreien Verhältnisse.
Aber: Nach dem Ende des Kalten Krieges liegen die Probleme offener, sie können nicht mehr hinter ideologischen Leerformeln versteckt werden. Früher standen sich zum Beispiel an der israelisch-arabischen Grenze aus der je spezifischen Optik die Reiche des Bösen und der Freiheit gegenüber. Heute tritt an die Stelle der hehren ideologischen Gegensätze der ganz pragmatische Handel um Interessensausgleiche in Fragen der Sicherheit von Grenzen, des Landes und der Wasserrechte. Gegenüber dem Wettkampf der Systeme ist das Feilschen um „banale“ Kompromisse allemal ein Fortschritt. Götz Aly
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