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ESSAYNur um ein paar Pfennig mehr?

■ Über das soziale Mißvergnügen der Stahlarbeiter

Es geht doch nur noch um ein paar zehntel Prozent“. So heißt es allerorten zum Auftakt der Streikauseinandersetzung in der Stahlbranche. Wegen dieser marginalen Unterschiede, so wird vorgerechnet, lohnt sich doch der ganze Aufwand eines Arbeitskampfes nicht — der Produktionsausfall, die durchwachten Nächte der Streikposten, das ganze öffentliche Spektakel der Drohgebärden und die Dramaturgie der nächtlichen Verhandlungsrunden. Sogar besorgte Stellungnahmen der G-7-Minister werden herbeizitiert, als ob vom Verdienst der Stahlarbeiter (oder der Krankenschwestern) das Schicksal der Weltkonjunktur abhinge. Hans Mundorf ('Handelsblatt‘) schleudert den Urabstimmungs-Aktivisten ein „Unverantwortlich!“ entgegen. Der Streik sei rechtswidrig und müsse verboten werden. Denn angesichts der geringen noch verbleibenden Differenz zwischen dem Angebot der Arbeitgeber und der Forderung der Gewerkschaften verstoße ein Streik gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel.

Rechnet sich der Streik?

Ja, wenn man es so rechnet, dann waren die meisten Streiks in der Geschichte der Bundesrepublik unverhältnismäßig: für die Streikenden ebenso wie für die Bestreikten. Denken wir zurück an den letzten großen Arbeitskampf 1984, als die IG Metall sieben Wochen streikte, die Arbeitgeber nicht ganz sieben Wochen aussperrten, als die gesamte Autoindustrie für Wochen lahmgelegt wurde und am Ende eine Arbeitszeitverkürzung von 1,5 Stunden pro Woche bei gleichbleibenden Reallöhnen herauskam. Hat sich das gerechnet? Für die Streikenden und Ausgesperrten mit Sicherheit nicht, denn das Streikgeld liegt um Erhebliches unter dem Normalverdienst. Den durch den Arbeitskampf bedingten Lohnausfall haben sie nie wieder aufgeholt. Für die kalt Ausgesperrten außerhalb der Streikgebiete, für die inzwischen wenigstens die Lohnersatzleistungen des Arbeitsamts vor Gericht erstritten worden sind, mit Sicherheit auch nicht. Und für die Industrie? Sie mußte nachher mit überstundenträchtigen Sonderschichten die ausgefallene Produktion nachholen. Das kostet.

Nein, Streik lohnt sich nicht. Arbeitskampf ist, rein rechnerisch gesehen, fast immer eine Fehlinvestition für alle Beteiligten. Auch heute in der Stahlindustrie: Bei einem durchschnittlichen Nettoverdienst von 2.400 Mark und einer durchschnittlichen Streikunterstützung von 1.700 Mark kostet ein Monat Streik die Stahlarbeiter rund 700 Mark (netto). Ein Prozent vom durchschnittlichen Bruttoverdienst eines Stahlarbeiters von ca. 3.800 Mark, das macht über 12 Monate bestenfalls 450 Mark (brutto). Also ein eindeutiges Verlustgeschäft für die am Arbeitskampf Beteiligten — und das sind aller Voraussicht nach auch diesmal nicht nur die Streikenden, sondern auch die von den Unternehmern Ausgesperrten. Und dennoch: das eindeutige Ergebnis der Urabstimmung beweist, daß die Stahlarbeiter den Streik wollen.

Jenseits bloßen Kalküls

„Dumm und töricht“, schalt Bundeskanzler Kohl die Gewerkschaften, als sie 1984 trotz aller beschworenen Katastrophenszenarios von ihrer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung nicht ablassen wollten. Den Köder der Vorruhestandsregelung warf man ersatzweise der gewerkschaftlichen Basis hin, um sie von der offiziellen Gewerkschaftsforderung abzubringen. Im Nachhinein geben sogar Gewerkschaftsfunktionäre zu, daß die damaligen Umfragen, wonach der Vorruhestand erheblich populärer gewesen sei als die Wochenarbeitszeitverkürzung, keineswegs gefälscht waren. Dennoch haben die Gewerkschaftsmitglieder auch damals für den Streik votiert und diesen dann — wider alle von den Regierungspolitikern verordnete Vernunft — sieben Wochen lang mit großen persönlichen Opfern durchgehalten.

Es muß mehr als nur das persönliche materielle Nutzenkalkül gewesen sein, was die Menschen zu diesem Engagement befähigt hat. Aber was? War es die Empörung über die unverhohlene, arbeitnehmerfeindliche Einmischung der Politiker in die Tarifauseinandersetzung, war es die Solidarität mit der in die Zange genommenen Gewerkschaft, war es das Gefühl der Herabsetzung und Benachteiligung oder die seit langem fällige Antwort auf all die kleinen und großen Erniedrigungen, die das Arbeitsleben für abhängig Beschäftigte bereithält? Schließlich wurde es ein großer politischer Lernprozeß, in dem Wochenarbeitszeitverkürzung nicht nur als individuelle Entlastung, sondern auch als Instrument der Umverteilung von Arbeit begriffen wurde.

Politische Wirkungen

Inzwischen wissen wir, daß dieser Arbeitskampf ein politischer Erfolg gewesen ist: kurz nach der Regierungsübernahme durch Unionsparteien und FDP hat er die Dynamik der konservativen Wende zumindest zeitweilig gebrochen. Arbeitszeitverkürzung ist inzwischen bis in die Reihen konservativer Politik hinein als ein Instrument sozial verantwortlicher und zukunftsträchtiger Gesellschaftspolitik akzeptiert. Und die 35-Stunden-Woche konnte in den folgenden Jahren ohne weitere Arbeitskämpfe tariflich vereinbart werden, ohne daß sich auch nur eine einzige der von den Unternehmerverbänden öffentlichkeitswirksam verbreiteten Horrorvisionen von wirtschaftlichem Zusammenbruch, Kapitalflucht und sozialem Chaos bewahrheitet hätte.

Für den Streik!

Wie damals ist auch heute eine diffuse soziale Unzufriedenheit allenthalben spürbar. Die Menschen in Westdeutschland wissen, daß sie — im krassen Gegensatz zu den Unternehmern — von dem nun fast zehnjährigen Wirtschaftsboom kaum etwas abbekommen haben. Es gibt ein weitverbreitetes Gefühl wachsender Verunsicherung — wegen der unkalkulierbaren, von den Arbeitnehmern zu tragenden Kosten der deutschen Vereinigung, wegen der Inflation und der Mietenexplosion, wegen der Asyldebatte, wegen der Angst vor Bürgerkriegen im Osten, wegen der drohenden „Flüchtlingswelle“, man könnte beliebig fortfahren. Wichtig ist nicht die Vollständigkeit der Symptome, sondern wie sich dieses diffuse Gefühl von Übervorteilung und Verunsicherung politisch ausdrückt. Die Tarifauseinandersetzung dieses Jahres, die sich nun im Stahlbereich zum Arbeitskampf zuspitzt, gibt dem seit langem untergründig virulenten sozialen Konflikt in Westdeutschland einen für breite Bevölkerungsschichten erfahrbaren konkreten Inhalt und eine durch Urabstimmung und aktive Beteiligung der Beschäftigten legitimierte demokratische Form. Es kann dem öffentlichen Klima in der Bundesrepublik nur guttun, wenn nicht mehr die Asyldebatte und die Fremdenfeindlichkeit im Mittelpunkt der politischen und sozialen Auseinandersetzungen steht, sondern die in demokratischen Entscheidungsprozessen formulierte Forderung der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften nach Gerechtigkeit auch bei der Verteilung des von allen erarbeiteten Reichtums.

Es geht wirklich nicht um die paar zehntel Prozente bei diesem sich anbahnenden Arbeitskampf. In die Tarifauseinandersetzungen fließen die soziale Unzufriedenheit, die Verunsicherung, der angestaute Protest der letzten Jahre ein. Nur so sind die erstaunlichen Mobilisierungen auch in solchen Branchen zu begreifen, für die Arbeitskampf bisher ein Fremdwort war. Die hochorganisierten Stahlarbeiter haben mehr Erfahrung als die Bankangestellten, wie man Arbeitskämpfe organisiert und auch über längere Zeit durchhält. Sie werden ihre Erfahrung brauchen. Denn noch nie seit 1984 wurde die Gewerkschaft vor einer Tarifauseinandersetzung propagandistisch derart unter Druck gesetzt. Dabei erstaunt die politische Blindheit von Möllemann & Co.: Es ist doch offenkundig, daß jede ihrer polemischen Auslassungen die „Streikfront“ stärkt und damit ihrem Ansinnen schadet, im zweiten Jahr der deutschen Einheit die 1984 verpaßte Wende bei der Verteilung materieller und sozialer Lebenschancen nun endlich durchzusetzen. Martin Kempe

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