ESSAY: Transformationskrise in Polen
■ Der Ruin der Wirtschaft und das Dilemma der demokratischen Linken
Personal und Ausstattung der politischen Bühne in Polen wechseln rasch. Gestern noch große Namen verschwinden. Schon hört man nichts mehr von Leszek Balcerowicz, dem noch kürzlich allmächtigen Finanzmagier. Die Demokratische Union Mazowieckis, die die führenden Häupter der alten demokratischen Opposition in sich vereinigt, steckt in der Defensive und macht kaum von sich reden. An die Rampe drängen heute Figuren, die oft nicht nur dem ausländischen Beobachter, sondern auch der polnischen öffentlichen Meinung völlig unbekannt sind. Parteien, deren Namen man kaum kennt, bilden die Regierung. Dieser rasche Wechsel ist weder zufällig noch außergewöhnlich. Mit ähnlichen Umbewertungen und Kehrtwendungen kann man auch in anderen postkommunistischen Ländern rechnen. Eine Transformationskrise ist zu konstatieren.
Faktoren der Krise
Will man die Dynamik des polnischen politischen Lebens verstehen, so muß man sich vor allem die Tatsache bewußt machen, daß die überwiegende Mehrheit der polnischen Gesellschaft einen zweifachen, hohen Preis zahlt: den für die Unfähigkeit des kommunistischen Systems und den für die nicht besonders gelungene Art, es zu überwinden. Eine zweite, die polnische Realität prägende Bedingung ist die zufällige Natur der Spaltungen innerhalb der demokratischen Führungskreise. Sie spiegeln interne Probleme der Eliten in größerem Maß wider als die Differenzierung gesellschaftlicher Interessen und Forderungen.
Ein bedeutender Teil der polnischen Gesellschaft wünscht seit längerer Zeit eine grundlegende Korrektur des unter der Oberaufsicht des Internationalen Währungsfonds realisierten wirtschaftlichen Stabilisierungsprogramms. Es wird gefordert, das polnische produktive Potential zu retten, das Anwachsen der Arbeitslosigkeit zu bremsen, die Kosten der Reform gerecht zu verteilen sowie die Korruptions- und Spekulationswege bei der Entstehung neuen Kapitals zu blockieren. Wie intensiv diese Änderungen — auf demkratischem Wege ! — gewünscht werden, zeigen die Ergebnisse der Wahlen. Bei den Präsidentschaftswahlen, erhielten diejenigen Kandidaten, die, einschließlich Walesas, mit der Parole „ökonomische Kurskorrektur“ angetreten waren, ein eindeutiges Übergewicht. Noch offensichtlicher wurde dies bei den letzten Parlamentswahlen. Für die Parteien, die ausdrücklich eine Kehrtwendung in der Sozial- und Wirtschaftspolitik verlangen, stimmten mindestens drei Viertel der Gesamtwählerschaft.
Kurskorrektur?
Theoretisch gesprochen gäbe es zwei Möglichkeiten, den Weg der orthodox-liberalen und offensichtlichen Anti-Arbeiter-Politik wie sie gegenwärtig in den meisten postkommunistischen Ländern realisiert wird, zu verlassen. Die erste bestünde darin, eine starke, moderne und offensive sozialdemokratischen Orientierung zu entwickeln, die sich auf die Gewerkschaftsbewegung stützt. Dieser Weg ist jedoch durch verschiedene Hindernisse blockiert. Das wichtigste ist die Besetzung der linken Seite der politischen Szene durch die postkommunistischen Kräfte. Diese Situation nutzt der liberalen Rechten, denn sie weiß genau, daß die postkommunistischen Gruppierungen weit weniger gefährliche Konkurrenten sind, als eine authentische, aus der demokratischen Opposition erwachsene Sozialdemokratie. Die Alternative zum sozialdemokratischen Weg bilden die Kräfte, die dem traditionellen, um nicht zu sagen konservativen, „volksnahen“ Lager entstammen. In Polen gehört zur Weltanschauung dieses Lagers ein starker Antikommunismus, eine nationale Sebstidentifikation (was auf keinen Fall mit Nationalismus gleichgesezt werden kann), Mißtrauen gegenüber den politischen Eliten und auf dem Land und in den Kleinstädten eine Religiösität, die allerdings nicht mit Klerikalismus gleichgesetzt werden kann. Im Augenblick sind die politischen Strömungen, die dieser Weltanschauung entstammen, viel stärker als die sozialdemokratische Orientierung, die erst unter vielen Mühen aufgebaut werden muß. Theoretische Stütze dieser traditionellen Orientierung ist die antikommunistische, aber in bedeutendem Ausmaß eben auch antikapitalistische, katholische Soziallehre. Deren charakteristisches Merkmal sind ihre Abstraktheit und Allgemeinheit, die es schwer machen, sie in die Sprache einer konkreten Sozial- und Wirtschftspolitik zu übersetzen. Angesichts dieser Schwierigkeit muß sich die christlich-traditionelle politische Richtung eben solcher Lösungen bedienen, die entweder der liberalen oder der sozialdemokratischen Doktrin nahestehen. Vor eben diesem Problem steht die Regierung Olszewski, die über keine eigene Programmatik verfügt. Als Mitte-Rechts-Regierung kann sie sich nicht gut gegenüber der — außerdem noch schwachen — sozialdemokratischen Orientierung öffnen. Es bleibt ihr nur übrig, sich auf die pragmatischen Liberalen zu stützen, die einen Teil der Mitte-Rechts-Gruppierung „Zentrumsallianz“ bilden. Diese ziemlich labile Koalition für eine andere Sozial- und Wirtschaftspolitik trifft im Parlament auf einen erstarkten Widerstand des rechtsliberalen „Blocks der Kontinuität“. Das Zentrun dieses Blocks stellt die sich immer mehr nach rechts entwickelnde „Demokratische Union“ zusammen mit dem konservativ-liberalen „Liberaldemokratischen Kongreß“ dar. Auf deren Seite schlägt sich auch ein Teil der Führer der „Zentrumsallianz“, sowie ein Teil der postkommunistischen Abgeordneten (nämlich die, die die Interessen derjenigen verteidigen, denen es gelungen ist, rechtzeitig ihre „kapitale Macht“ in die „Macht des Kapitals“ umzuwandeln).
Olszewskis Problem...
Olszewski steht demnach vor einer dramatischen Wahl: soll er tatsächlich versuchen, die Sozial- und Wirtschaftspolitik unzuorientieren, die Koalition um die Bauerngruppierungen zu erweitern (vielleicht vereint in einer volks-christlichen Bauernpartei) und darüber hinaus Unterstützung außerhalb des Parlaments suchen (eben zum Beispiel bei den Gewerkschaften), oder soll er einen Kompromiß mit den rechtsliberalen Parteien eingehen, der die Mehrheit im Parlament garantiert, und damit erneut dem von Balcerowicz eingeschlagenen Weg folgen?
Noch fehlt eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Auch das kürzlich veröffentlichte sozial- und wirtschaftspolitische Regierungsprogramm für das Jahr 92 entscheidet diese Frage letztlich nicht. In ihm werden zwar wesentliche Veränderungen deklariert, aber es ist weitgehend allgemein und unzusammenhängend, so daß es die Realisierung der angestrebten Veränderungen nicht garantieren kann.
... und die Taktik der demokratischen Linken
Die in Polen entstandene politische Situation, wie sie sich ähnlich auch in anderen postkommunistischen Ländern herausbildet, stellt die aus Solidarność hervorgegangenen Gruppierungen mit sozialdemokratischer Orientierung vor eine schwierige Situation. Einerseits ist ihnen bewußt, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen nur das christlich-traditionelle Lager imstande ist, Korrekturen an der fatalen Sozial- und Wirtschaftspolitik durchzuführen und damit den immer stärker anwachsenden gesellschaftlichen Konflikten vorzubeugen. Andererseits sind ihnen die in diesem Lager starken autoritären und isolationistischen Tendenzen fremd, ebenso wie die aggressiven Umgangsformen des Konservatismus (so gut wie sicher ist jetzt schon die Verabschiedung des uneingeschränkten Verbots der Abtreibung in allerkürzester Zeit). Gruppierungen sozialdemokratischer Orientierung wie Solidarność Pracy (Solidarität der Arbeit) bleibt unter solchen Umständen nur eine „elastische“ Taktik. Sie müssen die Regierung in der Wirtschaftspolitik bedingt unterstützen, sich aber von den antidemokratischen Aspekten des Regierungsprogramms distanzieren. Piotr Maciniak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen