ESC in Malmö: Die schönste TV-Produktion der Welt
Der 68. ESC ist eine große Feier voller verrückter Acts. Malmö ist belebter als sonst, allerdings auch aufgrund vieler Sicherheitsvorkehrungen.
Zur 68. Ausgabe sind rund 100.000 ESC-Fans aus über neunzig Ländern nach Schweden gekommen, nachdem im letzten Jahr Loreen mit ihrem Song „Tattoo“ gewonnen hatte. Dienstag und Donnerstag fanden die beiden Halbfinale statt, am Samstag wird das große Finale in der Malmö Arena ausgetragen. Ein Großteil des Musikfests spielt sich jedoch außerhalb der Arena ab, wo der Hype verständlich ist: Malmö ist sonst eine ruhige Hafenstadt, nach Einbruch der Dunkelheit ist selten viel los.
In dieser Woche aber hängen Banner mit dem Eurovision-Slogan „United By Music“ von Gebäuden und Straßenlaternen. Überall sind Menschen unterwegs, Familien mit Kindern und kostümierte ESC-Fans präsentieren Fahnen der Länder, die sie gerne gewinnen sehen würden. Die Schauplätze sind über die gesamte Stadt verteilt, es gibt eine ESC-Straße, einen ESC-Club, eine ABBA-Pop-up-Ausstellung und das Eurovision Village mit drei Bühnen, Rollschuh-Disco, Essens- und Merchandise-Ständen. Dabei läuft immer Musik, vor allem die aktuellen Songs und die Beiträge der letzten Jahre.
„Ich mag das, weil ich diese Musik nur hier höre“, sagt der 50-jährige Will aus Irland, der mit seinem Partner Stuart in Australien lebt. Seit 2015 sind die beiden – abgesehen von den Covidjahren – jedes Jahr für den Songcontest nach Europa geflogen. „Wenn man einmal anfängt hinzufahren, kann man nur schwer wieder aufhören“, sagt er. Die Besucher:innen des Eurovision Village erkennt er teilweise aus den letzten Jahren wieder. Und welches Land auch immer dieses Mal gewinnen wird: „Dort werden wir eine Woche unseres Lebens verbringen.“
Teil der ESC-Geschichte
Wiederkehrend anzutreffen sind neben den Fans die Bands und Stars der letzten Jahre, etwa der irische Zweifachsieger Johnny Logan, der in Malmö beim ersten Halbfinale unterhielt. Sie sind für die Stimmung rund um den Wettbewerb selbst da, treten auf, heizen ein und repräsentieren einen Teil der ESC-Geschichte.
So spielt am Dienstagnachmittag die Electro-Folkband Go_A, die 2021 für die Ukraine angetreten ist. Gewonnen hat sie nicht, aber Gewinner der Herzen zu sein, ist hier „a thing“. Zwei neuseeländische ESC-Fans mit Windows-95-Logo auf der Wange und Raverbrille erklären mir, dass der Auftritt ein Muss ist und darum besuche auch ich das Konzert von Go_A.
Dabei begegne ich der Journalistin Anastasiia, 27 Jahre alt, und der Fotografin Ira, die 24 ist, aus der Ukraine. Die beiden sind von Berlin aus drei Tage nach Malmö getrampt, um sich den ESC anzusehen. Zwischendurch haben sie in Lüneburg und Kopenhagen bei Couchsurfing-Möglichkeiten geschlafen, wie sie es auch hier in Malmö tun. Am Abend gegen neun Uhr kamen sie dann an und konnten sich noch einen Teil des Auftritts von Conchita Wurst ansehen.
Für Anastasiia ist es der dritte Grand Prix, das erste Mal war sie in Kyjiw dabei, dann in Turin. „Es ist wie ein Festival“, sagt sie begeistert. Zufällig hat sie hier auch den 26-jährigen Ukrainer Andrii wiedergetroffen, den sie 2022 auf dem ESC in Italien kennengelernt hat. Der Sozialarbeiter hatte damals dort studiert, lebt inzwischen in Kanada und ist extra für die ESC-Woche angereist.
Im Anschluss weiter nach Norwegen trampen
Für ihn sind Konflikte zwischen Ländern unvermeidbar, „aber es ist besser, sie hier auszutragen. Diese Woche sind wir alle zusammen, aber trotzdem ist es eine Art von Wettbewerb.“ Ira ist vor allem wegen des Reiseabenteuers dabei, gibt sie zu. Trotzdem will sie sich am Abend gemeinsam mit Anastasiia die Übertragung des ersten Halbfinales in einer Bar anschauen. Im Anschluss wollen die beiden weiter nach Norwegen trampen.
Im Laufe des Abends füllen immer mehr Menschen das Eurovision Village, später wird das erste Halbfinale auf Leinwand übertragen und Fans warten darauf, dass die italienische Teilnehmerin Angelina Mango auftritt. Einer von ihnen trägt ein weißes Shirt, eine rote Hose und Jacke, dunkle lockige Haare und ein silbernes Pflaster auf der Nase, um seine Schultern hängt eine litauische Flagge – er sieht aus wie Silvester Belt, der dieses Jahr für Litauen antritt.
Er habe im März angefangen, für sein Outfit zu recherchieren, erzählt Amandas. Zum ESC zu fahren sei seit vielen Jahren sein Traum gewesen, „aber ich musste warten, bis ich volljährig bin“.
Gemeinsam mit fünf Freund:innen sei er 24 Stunden lang mit dem Auto nach Malmö gefahren. „Er hat mich gefragt, wie hätte ich Nein sagen können?“, meint seine 18-jährige Schulfreundin Glorija. Das Airbnb hätten sie im August auf gut Glück gebucht, damals war der genaue Veranstaltungsort noch gar nicht klar – aber so sei es günstiger gewesen.
Politisch aufgeladen
Bei der Großveranstaltung helfen fast 600 Freiwillige mit, auch Amy, 38, aus Malmö, die eigentlich Landschaftsarchitektin ist. „Ich liebe den ESC und ich habe mich davor schon viel ehrenamtlich engagiert“, sagt sie. Ihr Job sei sehr abwechslungsreich, „ich mache alles, was benötigt wird“. Montag habe sie bei der Generalprobe für das erste Halbfinale in der Maske mitgeholfen und im Anschluss Knicklicht-Armbänder an die Zuschauer:innen ausgeteilt. Eine ihrer Aufgaben war aber auch, ein Banner zu schrubben, auf das jemand „Free Palestine“ geschrieben hatte.
Dass dieser ESC politisch aufgeladen ist und es im Vorhinein Sicherheitsbedenken gab, ist in Malmö deutlich spürbar. Straßen sind abgesperrt, in die meisten Veranstaltungsorte kommt man nur ohne Tasche, vor fast jedem Hotel stehen Sicherheitskräfte.
„Es sind bestimmt vier mal mehr als sonst“, sagt der 28-jährige Webdesignstudent Pontus, der in der Nähe des Folkets Parks wohnt. Er ist einer derer, die sich den ESC aus politischen Gründen nicht ansehen möchten. In der Stadt hängen in manchen Schaufenstern Flyer, die für Donnerstag und Samstag zu Demonstrationen aufrufen, damit die Europäische Rundfunkunion Israel vom Wettbewerb ausschließt. Auch die Couchsurfing-Hosts der trampenden Ukrainerinnen sind Teil der Proteste.
Im Gespräch mit mehreren ESC-Teilnehmenden betonen diese aber vor allem, dass sie das Zusammentreffen mit den Sänger:innen der anderen Länder gut finden. „Die Pre-Parties waren cool, wir haben gemeinsam gefeiert“, sagt Isaak, der für Deutschland antritt. Der österreichische Act Kaleen freut sich über eine sehr familiäre Gruppendynamik. „Es ist die schönste Fernsehproduktion, die es auf der Welt gibt“, sagt sie.
Im Pressezentrum kommen die Acts vorbei, posen kurz für Social-Media-Videos oder geben Statements ab – dann müssen sie meistens schon weiter. Der Windows95man steht dort mit knappen Jeans-Shorts und Ledermantel in Windows-Farben und hat kurz Zeit für ein Foto.
Am Dienstagabend läuft das erste Halbfinale auch im Pressezentrum. Journalist:innen aus Kroatien, Irland, der Schweiz schauen sich gemeinsam auf großen Bildschirmen an, was auf der Bühne passiert. Und genauso wie die Fans im Eurovision Village jubeln sie und klatschen, wenn ihre Favoriten auftreten – während sie vor ihren Laptops sitzen und darüber schreiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“