ESC Der Wettbewerb ist erfolgreich, weil sich seine Fans quer durch Europa miteinander vernetzen: 12 points!
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von Jan Feddersen
Der offiziellen Überlieferung nach war es ein Finne, der 1984 den Verein Organisation Générale des Amateurs de l’Eurovision gegründet hat. In dem Jahr, in dem das schwedische Herrentrio Herrey’s den Eurovision Song Contest mit dem bis heute gültigen Ohrwurm „Diggi-Loo Diggy-Ley“ gewann, versammelten sich seine Freunde und er in Savonlinna, einem Städtchen mit mittelalterlicher Burg, in dem gewöhnlich Opernfestspiele stattfinden. Was sie einte, war die Passion für das größte europäische Popevent: den Grand Prix Eurovision de la Chanson.
Allerdings übersieht die Geschichtsschreibung gern, dass es schon seit der ersten Ausgabe 1956 im schweizerischen Lugano echte ESC-Fans gibt: So wird in freundlichster Oral History auch von Gruppen aus Bordeaux, Arendal, St. Pölten, Krefeld oder Namur berichtet – schon in den frühen sechziger Jahren. Man huldigte einer TV-Show, damals noch in Schwarz-Weiß, zu der man sich auch deswegen versammelte, weil die allermeisten noch keine Aufzeichnungsgeräte hatten: ein Zwang zum Live-Gucken. Musik aus allen möglichen Ländern: Wo gab es das denn sonst, da selbst auf den Popwellen nur die nationale Mainstreammusik gespielt wurde?
Man gierte nach Auftritten von Frauen in langen Abendkleidern, nach hysterischen musikalischen Entgrenzungen, nach seltsamen Sprachen – wie anders als komisch nimmt sich gesungenes Deutsch in den Ohren von Italienern aus? Das Schwedische bei Jugoslawen? – und dem Akt der Abrechnung, dem magischen Modus, der den ESC so einzigartig machte: Am Ende wird abgestimmt. Und kein Land darf sich selbst begünstigen. Punkte mussten an die anderen Lieder (also Länder) gegeben werden.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs sannen die nichtsozialistischen Länder Europas darauf, ein gemeinsam nutzbares Radio- und TV-Netzwerk zu schaffen. So wurde die European Broadcasting Union gegründet, die auch heute noch ihren Sitz in Genf hat. Um das Verschalten auch technisch zu üben, brauchte es einen Wettbewerb: Der ESC war so das erste europäisierende Kulturprojekt der Nachkriegszeit neben der in Kassel begründeten Documenta – das Ding mit den Liedern war aber über die Jahre viel populärer: Europa feiert sich selbst.
Ob der ESC ein schwules, ein queeres Event wurde – und als solches bekannt und immer noch verachtet wird von den meisten heterosexuellen Menschen –, ist letztlich ungeklärt. Vermutet werden darf, dass dort Musik zur Geltung kam, die die „coolen Jungs“, die heterosexuellen Zuschauer, als Kitsch abtaten. Queers hingegen liebten das transnationale Spiel um Darbietungen. Der ESC – das ist eine europäische Show, und so sieht man das auch im geografisch nicht zu Europa gehörenden Aserbaidschan, in Israel, in Armenien, in Australien (zweimal) und 1980 (einmal dabei!) sogar in Marokko.
Wer den ESC guckt, auf den Tag der Entscheidung im Mai hinfiebert, weiß, dass die national angesagten Musiksorten international nichts gelten müssen: Eurovision ist, wenn man zuguckt und hinterher sich in den Medien sagen lassen muss, dass es Schrott war. Kurz: Ästhetisch gesinnte Urteile, die nichts anderes als queerphob sind. ESC, das war und ist Musik, die schwule Männer und sehr viele Frauen gut finden – weil Erstere im heteronormativen Popmainstream sonst gern übersehen werden. ESC – das sind Tragödien und Triumphe: Conchita Wurst war 2014 der letzte Beweis.
Die OGAE ist inzwischen ein professionell arbeitendes europäisches Netzwerk mit Filialen in Asien, Amerika und Afrika. Eine Graswurzelbewegung an den Scheinwerfern der Hoch- wie offiziösen Popkultur vorbei: am Ende antinational eben.
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