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Archiv-Artikel

ES GIBT RIVALITÄTEN, DIE NUR VERSTEHEN KANN, WER NAH GENUG DRAN IST. UND LIEBE, DIE AM GRÖSSTEN IST IN ZEITEN DER NIEDERLAGE Ramones, Dylan, Kickers

ROGER REPPLINGER

Das letzte Trikot der Stuttgarter Kickers, das ich gesehen habe, blau-weiß gestreift, hing im Krankenzimmer der BG Unfallklinik in Tübingen. Der Mann im Krankenzimmer ist seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt. Als ich kam, hatte er Besuch von Rolf Steeb – in den 1960er Jahren 351 Spiele für die „Blauen“ absolviert, in der Ober- und Regionalliga. Abwehrspieler. Steeb kickte zehn Jahre früher, als ich zu den Kickers ging.

Am Samstag war ich bei den Kickers in Rostock. Sie sind, nach einigen Spielzeiten in der Regionalliga, in die Dritte Liga aufgestiegen. Es war wie der Besuch bei einer Tante, die ich lange nicht gesehen habe. Wie Ramones hören oder Dylan, ein Fotoalbum durchblättern, die Augen schließen und mich als Jugendlichen sehen: Ich sehe Degerloch, einen Stadtteil von Stuttgart, den Fernsehturm, neben dem das Stadion liegt. Ich rieche den Wald, höre mein Motorrad, das die Jahnstraße hoch fährt, sehe meine Kumpels, die über dem „g“ von „Landesgirokasse“ stehen, ich sehe den Torwart Rolf Gerstenlauer und Dieter Dollmann, Dieter Renner, Karl Allgöwer, der zum VfB Stuttgart ging, und Horst Haug, der vom VfB zurück gekommen war. Er hatte was am Ellenbogen und schwarze Haare an den Beinen.

Ich spüre die Angst vor den Hertha-Fröschen, die auf alles einschlugen, was nicht Hertha war. Brachten was mit, was sonst nicht da war. Brauchte keiner. Sehe die Rentner mit den Hüten. Auch mein Vater hatte so einen. Die lagen, ab 1978, im Schrank, weil er keine mehr brauchte. Mit so einer kleinen bunten Feder im Hutband.

Es gibt eine Rivalität zwischen den Kickers und dem VfB Stuttgart, die im Norden so wenig verstanden wird, wie die Stuttgarter das mit dem FC St. Pauli und dem HSV schnallen. Je weiter man weg ist, desto kleiner wird die Rivalität. Ich war als Kind beim VfB, das Stadion konnte ich von der Wohnung zu Fuß erreichen, später bei den Kickers.

Ich habe beim Fußball mehr über mich gelernt als sonst wo. In der Saison, als der VfB in der Zweiten Liga war, und nur noch vier-, fünftausend Leute im Neckarstadion waren, als jeder spottete: die Alten, die Pauker, die Nachbarn, die Verwandten, der Bruder, wenn ich mit der Fahne losgegangen bin, hab ich was gelernt. Auch meine Kumpels Steffen, Frank und Udo hatten keine Lust mehr. Ich gehe im Regen den Weg ins Stadion, an der Fabrik, in der mein Vater arbeitete, vorbei. Ich habe den VfB nie mehr geliebt als zu der Zeit, in der er ständig verloren hat.

Von unserem Balkon aus konnte man ins Neckarstadion gucken, bis die Tribünendächer gebaut wurden. Vor allem konnte man hören, was dort vor sich ging. Als ich noch nicht in die Schule ging, untermalten samstags die Geräusche der Fans das Kaffeetrinken auf dem Balkon. Meine Eltern rümpften die Nase über die Leute im Stadion.

Nichts verbindet mich mehr mit dem Fünfjährigen auf dem Balkon von damals als Fußball. Zu niemandem in meinem Leben hatte ich mehr Vertrauen als zu Günter Sawitzki, schwarze Kappe, weiße Bandagen um die Knie, der das VfB-Tor hütete. Und mich.