EM-Spiele nachträglich schauen: Das Versagen des Deprivators 5.000
Unser Autor will das letzte Spiel der Deutschen nachträglich ohne Spoiler sehen. Aber das ist schal, und überall lauern zu viel Informationen.
I n der Sitcom „How I Met Your Mother“ benutzt einer der Protagonisten, Ted Mosby, den „sensorischen Deprivator 5.000“, um alle Reize aus der Außenwelt auszublenden. Ted möchte mit seinen Freunden den Superbowl nachträglich schauen. Das Ergebnis darf niemand aus der Runde erfahren. Der Deprivator verhüllt Ohren und Augen, nur ein kleiner Sehschlitz bleibt offen, denn Ted will in einer Sportsbar noch die leckeren Chicken Wings abholen. Aber man ahnt es schon: Die Sache geht schief. Das Sportereignis ist zu groß, um nicht durch jede Ritze und in jede Pore zu dringen.
Auch mir hätte der sensorische Deprivator 5.000 nicht viel genutzt. Ich verpasse das Deutschland-Spiel, das sich als das letzte Deutschland-Spiel dieser EM erweisen soll; später möchte ich es mir in aller Ruhe reinziehen. Warum? Nun, es ist zu einer ganz netten Familientradition geworden, dass wir ein bestimmtes Konzert der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern besuchen, irgendwo im Nirgendwo der Seenplatte. Das hat Vorrang, und diesmal sind vier New Yorker Jungs in die Einöde gekommen, sie spielen in einer Dorfkirche groß auf, Mendelssohn, Britten und Wijeratne.
Die ersten zehn Minuten des Spiels gegen Spanien bekommen wir noch zu Hause mit, dann müssen wir los zur richtigen Kultur, die nicht ohrenbetäubende Massenbelustigung ist. Es steht 0:0, und die Festspieltante, die das Isidore String Quartet ankündigt, sagt, schön, dass man trotz eines „anderen wichtigen Ereignisses“ hier sei, und es stehe zur Halbzeit immer noch Null-Null, was mir natürlich nicht recht ist: too much information. Weitere Ergebnisdurchsagen unterlässt die Dame, auch sonst lässt sich jetzt nicht mehr viel erahnen. Die zumeist älteren Musikfreunde scheinen sich keinen Deut für das hochwichtige Fußballspiel zu interessieren. Wir verlassen die Kirche gegen neun und erhalten einen Anruf aus Berlin.
Der Sohn hat eine so heisere Stimme, dass ihn meine Frau nicht sofort erkennt, die Tochter scheint sich über irgendetwas zu beschweren. Was bedeutet das? Viele Tore? Ein doofer Schiri? Meine Frau blickt vielsagend kryptisch; sie weiß etwas. Oder?
Too much information
Die Dörfer liegen still, aber das tun sie immer. Ein Feuer brennt lichterloh, eine Fahne hängt schlaff, mehr ist da nicht. Daheim schaue ich auf Magenta TV die erste Halbzeit zeitversetzt, das heißt, meine Frau stellt den Stream für mich ein, um mich zu schützen vor Infoschrapnellen. Sie zappt vor zur zweiten Hälfte. Der Stream zeigt nicht 45 Minuten an, er ist viel länger, sehr viel länger. Ich weiß nun: Verlängerung, mindestens. Ich spule vor, ungeduldig und leicht genervt: too much information. 1:0, 1:1, 2:1. Das Aus.
Das alles wirkt schal, also nicht nur die Niederlage der Deutschen, sondern auch das Re-live-Gucken aus der Konserve. Das So-tun-als-ob erweist sich als Rohrkrepierer. Das Ereignis ist schneller, größer, eine Fermate reine Illusion, die vielleicht ein Nicholson Baker hinbekommt im gleichnamigen Roman, ich aber nicht. Bloß gut, dass nächstes Jahr keine bahnbrechenden Sportereignisse anstehen.
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