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EINE LIEBESAFFÄRE

■ Christian Marclay im Institut Unzeit

Vermeiden Sie jegliche Berührung der Plattenrillen! Säubern Sie die Platte vorsichtig mit einem weichen, staubfreien Tuch!“ Er nimmt sie immer zwischen Daumen und Zeigefinger, Fettfinger auf dem ersten Stück! Und wie haben wir's gelernt? Aus der Hülle gleiten lassen, die Kante im rechten Winkel zur Hautoberfläche, Kantenkontakt!

Christian Marclay zuzusehen, tut weh. Die Platten liegen nackt, kratzig übereinander, nach Gebrauch wirft er sie auf den Tisch vor sich. Es gibt keine Innen- und Außenhüllen, schwarze Scheiben, schichttortig, nur die Marmelade dazwischen fehlt. Vier Plattenteller laufen, Typ „California 1815“, das Gerät, das vorzugsweise an Schulen eingesetzt wird, da es den Lehrern und Schülern nur selten gelingt, sie zu ruinieren - ein Plattenspieler für den Fronteinsatz. Marclay läßt den Tonarm fallen, zieht ihn schräg über die Platte, die Nadel läuft auf dem Label in der Mitte, Alptraumgeräusche, Momente, in denen man zu Hause blitzartig aufspringt, um das Schlimmste zu vermeiden, Horrorvisionen des Schallplattenfans. Und Marclay macht das mit Stil und Liebe. Ein junger, ordentlicher Mann, T-Shirt mit Rundausschnitt, flink und geschickt, eine Verbindung aus Fernsehkoch und Zauberer, wechselt er die Platten, gibt etwas Keith Jarrett zu den Donkosaken, versetzt mit einer Prise Bartok und verkökelt sie zu einem Musikgeschichteneintopf a la Marclay.

Selbst wenn er rhythmisch Schellackplatten auf den Tonarm verschlägt, bewahrt er eine gewisse Grazie, eine zärtliche Hommage an Zeiten, als man noch Platten statt Porzellan an die Wand werfen konnte. Einszweidreivierfünfsechssiebenacht

-Marclay dreht mit den Fingern die Platten aus dem Ruhepunkt über 16, 33, 45, 48 zu 2971/3 Umdrehungen, und die Teller rotieren wie bei einem Jongleur. Wenn die Geschwindigkeit hoch genug ist, einen rhythmischen Kratzer auf 16, einen Baßrillensprung auf 33 und ein Saxophonsolo mit der Hand vor und zurück. Er verwendet präparierte Folienplatten mit Plastik überklebt oder zerschneidet Platten in acht Tortenstücke und klebt dann die Achtel aus verschiedenen Platten zu einer neuen zusammen. Oder die schönste Idee: Er bohrt irgendwo ein neues Mittelloch. Da freut sich die Nadel, wenn sie springen darf.

„Entfernen Sie den Staub an dem Saphir durch Pusten oder mit einem weichen Pinsel.“ Ein Christian-Marclay-Konzert hat einen therapeutischen Effekt. „Den Materialcharakter spürbar werden lassen“, nannte man das in der Hochkunstsprache. Länger als eine Stunde schaffe ich es selten, in Schallplattenläden zu wühlen, und dann entdecke ich vielleicht ein oder zwei Platten, die ich gesucht habe. Christian Marclay kauft Platten am Stück, einen halben Meter, 100 im Sonderangebot, und es reicht. Zwei gute Rillen finden sich auch auf der schlechtesten Platte, die markiert er mit Kleberingen, und die Nadel hat keine Chance mehr, zu entkommen. Er liebt Schallplatten nicht wie ein Sammler, nicht wie ein Liebhaber, der nur eine, ein paar, 100 liebt, sondern er liebt sie alle, alle, die jemals gepreßt wurden. Und das ist schön. In all dem Schrott, den Mauerblümchen, denen, die immer übrig bleiben, liebt er einen Ton, den er dann so oft wiederholt, bis er ausgekratzt ist und schließlich seine verdiente Ruhe gefunden hat. Das gefällt mir besser, als „den Materialcharakter erfahrbar zu machen“.

Christian Marclay, ein Schweizer in New York, macht Musik auf alten Instrumenten, die wie Plattenspieler und Schallplatten aussehen. Wenn er langen Passagen Raum gibt, wenn Musik nicht als Zitat hörbar wird, am besten, wenn die Nadeln nurmehr auf den leeren Plattentellern kreischen und brummen, wenn die mechanischen Umdrehungsgeräusche rückgekoppelt werden, dann ist er genial. Wenn der den Zitaten aber zuviel Zeit gibt, wenn sie sich zum Kreuzworträtsel ordnen, dann wird es zu einer Orgie der Musikgeschichte. Dann fehlt die Liebe zur Musik, weil sie so voraussetzungslos aller Musik gilt. Fehlt der Fanatismus und wird zur Bessenheit für das Material. Aber es ist immer noch gut, ihm zuzusehen. Auch wenn er die Platten zerstört, liebt er sie. CD-Scheiben sind nicht zu vernichten - es gibt sie überhaupt nicht. Die Hüllen kann man nicht zerschleißen, die Lieblingskratzer, die Schönheit des Rauschens, das Knacken wie könnte man sich in eine unsinnliche CD-Scheibe verlieben? Mit jedem Abspielen vernichtet man seine Platten, und Marclay weiß das - eine konsequente Liebesaffäre.

Zurück zu Hause lasse ich die Platte aus der Hülle gleiten, die Kante im rechten Winkel zur Hautoberfläche Kantenkontakt!

Konrad Heidkamp

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