EIN HESSISCHER WEG AUS DER ALLSEITS DÄMMERNDEN BILDUNGSKRISE: Der Mangel hinter dem Mangel
Die Landesregierung in Hessen tut sich schwer, das Versprechen zu erfüllen, mit dem die CDU unter anderem die Wahl gewann: keinen Unterrichtsausfall mehr. Doch dafür braucht man Lehrer. Die fehlen aber in den Schulen, weil man sie nicht eingestellt hat – und weil viele Studienabsolventen, zumal in den Naturwissenschaften, die Wirtschaft der Schule vorziehen. Man könnte das eine Art von Schulvermeidung nennen. Schließlich kommt jetzt noch eine andere Schulflucht hinzu, die die Statistiken vermasselt: Immer mehr Lehrer lassen sich vorzeitig pensionieren. 3.000 waren es in diesem Jahr in Hessen, doppelt so viele wie erwartet.
Nun wirbt Hessen bundesweit mit Anzeigen um Ersatz. Das führt zu Streit zwischen den Ländern, den üblichen Schuldzuweisungen und zu dem politiktypischen Verzicht, sich die Sache etwas genauer anzusehen. In diesem Fall: Um welche Bildung geht es eigentlich, wenn heute alle auf Bildung setzen und bei den gleichen Menschen das Misstrauen gegen sie wächst?
Bildungspolitik erinnert an eine Geschichte, die der Psychologe Paul Watzlawick einmal so erzählte: Ein Betrunkener hat seine Schlüssel verloren und sucht sie unverdrossen unter einer Straßenlaterne. Auf die Frage, warum er es nicht mal woanders versucht, antwortet er: „Aber hier ist es doch hell“!
Die Schlüssel sind der Bildungspolitik schon länger abhanden gekommen. Langsam vermissen sie alle. Ideen sind gefragt. Aber man sucht immer wieder an denselben Stellen, und die heißen: Lehrereinstellungen oder Alter der Kollegien, Computerausstattung oder Schulzeitverkürzung. Aber in diesen Themenkäfigen lässt sich die Realität nicht fangen. Das zeigt die jüngste Umfrage des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund. Den gleichen Menschen, denen Bildung immer wichtiger wird, sind Schulen ein wachsendes Ärgernis. Nur noch 25 Prozent der Deutschen halten die Fähigkeiten und Kenntnisse der Schulabgänger für gut. Dass ihr Kind gern zur Schule geht, bejahen so wenig Eltern wie noch nie. Drei Viertel der Bevölkerung setzen soziale Kompetenz und Teamfähigkeit an die Spitze der Lernziele, 20 Prozent mehr als bei der letzten Befragung 1997. Das Interesse an höheren Schulabschlüssen nimmt aber zum Erstaunen der Wissenschaftler ab. 1991 wollten noch 52 Prozent der Eltern, dass ihr Kind Abitur macht, jetzt sind es nur noch 44. Die Schere zwischen Erwartungen und Erfahrungen in Sachen Bildung wird größer.
Nehmen wir die Forderung: Mehr junge Lehrer? Ja! Aber was, wenn es heute vor allem die „Schafe“ sind, die Lehrer werden wollen, wie kürzlich auf dem Kongress der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Göttingen in einem Diskussionsbeitrag befürchtet wurde? Und was soll man davon halten, wenn in einem Gymnasium in einer nordhessischen Kleinstadt fast 40 Prozent der Lehrer Ehemalige dieser Schule oder Absolventen des anderen Gymnasiums am Ort sind? Sie wollten nicht mal in eine andere Stadt, geschweige denn raus ins feindliche Leben.
Dass auch die Lehrer sich in ihrer Haut nicht wohl fühlen, zeigen die Schulflucht der Frühpensionäre und die Schulvermeidung von Absolventen jener Lehrerstudiengänge, die Berufsalternativen in der freien Wirtschaft haben. Es wird Zeit, über den Lehrerberuf neu nachzudenken. Eine Möglichkeit wäre, dass Lehrer zu Tutoren und zu Mentoren werden, die in die Schule auch andere Experten holen, Experten der Erfahrung und der Praxis. So würden aus Lehrern die für ihre Schule wirklich Verantwortlichen, sie würden Wissensbroker, Manager des Austauschs und Arrangeure von Lernprozessen. Denn immerzu zu lehren, ohne selbst zu forschen, zu lernen oder eigene Erfahrungen zu machen, das erschöpft unweigerlich. Und der alte Ausweg, sich mit der Aura des wissenden Priesters zu schützen, der ist perdu. Schulen einzig mit Lehrern, die nichts als Lehrer sind, können unmöglich solche fürs Leben sein. Mit dem Versuch, Künstler, Wissenschaftler oder Handwerker in Schulen zu holen, macht man mancherorts belebende Erfahrungen. Auch Lehrer, die dann nicht mehr nur ihre Fächer unterrichten, sondern ihre Schüler, und die sich dafür um eine anregende Umwelt kümmern, erleben das als Bereicherung und als Steigerung ihrer Kompetenz, ihrer Handlungsmöglichkeiten, ja ihres eigenen Erwachsenwerdens. Denn „Leben entzündet sich nur an Leben“, sagte der Dichter Jean Paul. REINHARD KAHL
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