EIN GLÜCK: 20 JAHRE NACH DEM MAUERFALL GIBT ES IMMER NOCH BRACHFLÄCHEN, AUF DENEN SICH EIN CLUB INSTALLIEREN LÄSST : Die wohlige alte „Crazy Berlin!“-Euphorie
VON CHRISTIANE RÖSINGER
Am Freitag war die spätsommerbedingte Kreislaufschwäche in eine frühherbstliche Erkältung übergegangen und das ausgehfeigere Ich wollte schon schwächeln, aber mit einem beherzten „Man kann nicht im September schon anfangen bequem zu werden und lieber zu Hause bleiben“ siegte doch das Bessere.
Die „Redaktion und Alltag“-Party im Cracker war noch nicht in vollem Gang, umso besser konnte man die bisher unbekannten Räume begutachten: die lauschige Bretterveranda, die Birken, die durch das Vordach gewachsen waren, und all die Spontanvegetation auf dem alten Bahnhofsgelände! Das machte sentimental und vertrieb sogar die kulturpessimistische Einstellung, dass das Spreeufer bald überall zubetoniert, das Ausgehen in Berlin immer fader werden wird. Die Erkenntnis, dass es 20 Jahre nach Mauerfall und galoppierender Gentrification immer noch liebliche Brachflächen gibt, auf denen sich ein Club installieren lässt, verursachte für einen Moment die wohlige alte „Crazy Berlin!“-Euphorie. So endete die Nacht mit einem übertrieben guten Gefühl, der Samstag begann ernüchternd grau und kalt.
Hätte nicht der Wetterbericht für diese Woche noch einmal bis zu 30 Grad angekündigt, man hätte sich nachmittags der melancholischsten aller Beschäftigungen hingegeben, nämlich: allzu luftige Sommerbekleidung wegräumen, Strickjacken hervorholen und sich einreden, die kühlen Jahreszeiten hätten auch schöne Seiten. Passend zum Sommerabschluss machte man sich abends zum traditionellen Sommerabschlussfestival „Summerize“ in die Kulturbrauerei auf.
Verglichen mit den Wald- und Wiesenfestivals hat so ein Stadtfestival viele Vorteile: U-Bahn-Anschluss, Toiletten, Asphalt. Das Summerize stellt ja immer neuere Bands aus der Stadt vor, und die Gruppe Nachtlüx wurde von Insidern als portisheadähnlich eingestuft. Sie agierte dann aber etwas angestrengt. Zeitgleich bewegte sich im ersten Stock ein junger Mann unentschlossen zwischen Laptop und all den Instrumenten, die er spielen konnte, seine jäh endenden Tracks und lange Pausen irritierten ein wenig. „Gehört das so?“, fragte sich die Hörerschaft, oder sollte der Musiker, wie sie bei DSDS sagen, „noch an seiner Performance arbeiten“?
Bierbeben und Masha Qrella waren gut wie immer. Auf Baby you know wartete man mit Spannung, hier hatten Informanten auf das außergewöhnliche Talent der blutjungen Musiker hingewiesen. Tatsächlich klang die Band recht interessant, aber auch bei einem Luxusfestival wie dem Summerize muss man mal raus. In einer benachbarten Falafellokalität spielte gerade die deutsche Nationalmannschaft gegen die Südafrikas, mit deutschem Kommentar, aber auch deutschen Untertiteln. Ob es sich um eine Marotte der Wirtsleute oder um einen Gehörlosenservice der Sendeanstalt handelte, weiß man nicht. aber rätselhafte Untertitel wie „Es gibt wieder Freiheit in den Flügeln“ gaben dem Zuschauer einiges zu denken. Unter allerlei sprachphilosophischen Meditationen ging so das Ausgehwochenende zu Ende.