JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE : Du bist Hans Castorp!
Den Jahresauftakt dynamisch gestalten: Mit verstopften Tuben und den richtigen Vorbildern ist das kein Thema
„Der junge Faun war sehr glücklich auf seiner Sommerwiese. Hier gab es kein ‚Rechtfertige dich!‘, keine Verantwortung, kein priesterliches Kriegsgericht über einen, der der Ehre vergaß und abhanden kam. Hier herrschte das Vergessen selbst, der selige Stillstand, die Unschuld der Zeitlosigkeit.“ Ach du meine Güte. Was soll bloß die Kanzlerin denken? Die hat doch gedacht, jou!, jetzt geht’s los. Jeder packt mit an, hat sie appelliert, gleich am Neujahrsmorgen! Alle ziehen mit! Und ich? Siech.
Schon läuft die Ideen-Olympiade, der Innovationsblasebalg holt Luft: jetzt gilt’s! Und ich? Liegekur. Kirschkernwärmesäckchen auf dem Ohr, der selige Stillstand. Und im Radio Abend für Abend das „Zauberberg“-Hörspiel; das bröckelnde Dahinrotten, das Purzeln der „Jährchen“, Hans Castorp, der das Kränkeln als Daseinszweck umarmt, der Welt abhanden kommt. Tut mir das gut, hier neben ihm zu liegen, beschwert unter Decken immer wieder „Prélude de l’après-midi d’un faune“ von Debussy zu hören, ein Lieblingsstück von uns zwei? Verantwortungslose Sommerwiesen im Hirn, starrer Winter vor dem Fenster. Wie soll denn hier jemals der Schwung keimen, den Deutschland jetzt von mir erwartet? „Es war die Liederlichkeit mit bestem Gewissen“, summt Udo Samel, „die wunschbildhafte Apotheose all und jener Verneinung des abendländischen Aktivitätskommandos, und die davon ausgehende Beschwichtigung machte dem nächtlichen Musikanten die Platte vor vielen wert.“ Ich nicke Hans zu. „Es muss ja nichts Überragendes sein“, hat die Kanzlerin ihr Aktivitätskommando noch relativiert. Und ich? Huste marmorierte Batzen aus. Pardon? Ja, eben: Was ist denn das für ein Bild zum Jahresauftakt! Nicht so überragend, in der Tat, aber das kann sie nicht gemeint haben.
Die Husterei kommt vom Mundatmen. In Amerika sagen sie „mouth breather“ zu einem stumpfen, dumpfen Kerl. Ich atme viel mund in der letzten Zeit, unter unfreiwilliger Umgehung der an und für sich vorziehenswerten Nase, weil meine Tuben verstopft sind. Meine Tuben. Ich laboriere jetzt schon so lange rum mit meinen Tuben und einer sich zunehmend chronisch aufführenden Stirnhöhlenentzündung, dass mich das Gefühl beschleicht, das Umfeld mag meine Geschichten von wegen daher rührendem Innenohrkatharrh et al schon gar nicht mehr hören. Man muss sich das mal vorstellen: meine Ohren sind voller Schleim! Innen drin. Praktisch ausgegossen. Was ein mitunter klaustrophobisches und der Umwelt effektiv entrückendes Kopfgefühl bewirkt à la: Motorradhelm. Tischtennisbälle im Gehörgang. Stumpf, dumpf. Was habe ich in den letzten Wochen alles probiert. Die Nasendusche. Die Ohrenkerze. Sprays, Filmtabletten und Kapseln. Hildegard von Bingens sensationell widerliches Andorntee-Weißwein-Sahne-Gebräu (was war das für ein strafender Gott, der dieser Frau die Heilrezepte eingegeben hat?). Bottiche von Thy- mian-, Ingwer- und Lindenblütentee sind durch mich hindurchgeflossen. Der Schleim blieb.
Um ehrlich zu sein, habe ich den Eindruck, das Umfeld wollte sie von Anfang an nicht hören, meine Geschichten vom Schleimohr. Beleg dafür, wie betrüblich wir in dieser Gesellschaft unserer Kreatürlichkeit entfremdet sind. Schleimohren sollten die natürlichste Sache der Welt sein, sind aber offenbar für die Gesunden da unten schwer zu nehmen. Seit Kanzlerins Kommando haben meine völlig zugemacht. Keine großartigen Veränderungen der Konstitution seither. Jemand meint, es könnte psychisch sein. Ich horche viel in mich hinein in diesen Tagen. Die Tischtennisbälle lassen mich das Knirschen meiner Nackensehnen, das Rauschen der Muskelspannung hören, als ich den Kopf zur Seite drehe. Das Geräusch ist unheimlich, drum schnell wieder entspannen. Ich sehe Hans mir zunicken. Da dringt sie wieder durch den dumpfen, meterdicken Schnee: die Faunenflöte. Lockt uns zurück auf die Sommerwiese. Der selige Stillstand. Die Liederlichkeit mit bestem Gewissen. Die Kanzlerin greint.
Und ich? Penn’ ein.
Fragen zum Schleimohr? kolumne@taz.de Morgen: Martin Reichert LANDMÄNNER