Drohende Staatspleite in den USA: "Amerika ist nicht pleite"
Die Amerikaner haben vor allem ein ideologisches Problem mit der Rolle des Staates, glaubt Ökonom Jeff Madrick. Die Schuld schiebt er den Republikanern in die Schuhe.
taz: Herr Madrick, sind die USA pleite?
Jeff Madrick: Amerika denkt, es wäre pleite. Es handelt, als wäre es pleite. Aber es ist es nicht im Entferntesten. Amerika wird die Steuern für die Reichen nicht erhöhen. Dabei sollte es das sofort tun. Und wenn wir aus dieser schlechten Lage heraus sind, sollten wir auch die Steuern für die Mittelschicht erhöhen. Wir sind ein Niedrigsteuerland. Ein Land, das glaubt, es brauche keine Regierung, um neue Straßen zu bauen, für gute Schulen zu sorgen, soziale Programme zu schaffen, die Benachteiligten helfen. Wir haben einen Punkt von enormer moralischer Verantwortungslosigkeit erreicht. Aber Amerika ist nicht pleite. Die Wirtschaft mag beschädigt sein, aber das Land hat Geld. Die Jobmaschine ist beschädigt.
Wer ist verantwortlich für die Blockade in Washington?
Ohne jede Frage die Republikaner. Angeführt von Tea-Party-Extremisten sind sie extrem verantwortungslos geworden. Es ist, als ob sie Amerika ins Unglück stoßen wollten, um sich durchzusetzen. Was sie tun, ist sowohl kindisch als auch tragisch.
Wieso ist der Sturm auf Steuern so populär in den USA?
Es geht in diesem Streit nicht um Wirtschaft, sondern um Ideologie. Die Tea-Party-Anhänger verstehen nicht, warum eine Regierung wichtig ist. Sie verstehen unsere Geschichte nicht. Und haben keine Ahnung von Wirtschaft. Sie haben Ideen, die nicht nur einfach sind, sondern simplifizierend. Aber wir leben nicht in einer einfachen Wirtschaft.
der Wirtschaftswissenschaftler, 64, arbeitet am Schwartz Center for Economic Policy Analysis und am Rockefeller Institute in New York. Seit 12 Jahren leitet er zudem das Wirtschaftsmagazin Challenge. Er hat zahlreiche Bücher über die Entwicklung des Kapitalismus in den USA veröffentlicht. Sein neuestes Buch ist vor sechs Wochen erschienen. Es befasst sich mit der Geschichte der Finanzkrise: "Age of Greed: The Triumph of Finance and the Decline of America, 1970 to the Present".
Was ist Ihres Erachtens nötig?
Wir brauchen eine starke Regierung, die dafür sorgt, dass jeder fair behandelt wird, eine angemessene Erziehung bekommt und eine Gesundheitsversorgung.
"Big Government" ist heute in den USA ein Schimpfwort. Können Sie abschätzen, seit wann das so ist?
Die Antiregierungshaltung breitete sich in den 70er Jahren aus. Heute hat "Big Government" quer durch Amerika einen schlechten Ruf. Und ich habe den Eindruck, selbst Präsident Obama hält es für eine schlechte Sache. Auch ihm fehlt das adäquate Verständnis für die Geschichte.
Was hat den Wandel in den 70er Jahren ausgelöst?
Ein extremes wirtschaftliches Umfeld: hohe Inflation durch schlechte Ernten und die Anhebung der Ölpreise durch die Opec. Und dazu eine hohe Arbeitslosigkeit. Es gab aber keine scharf umrissene Politik, um die Wirtschaft zu korrigieren, und wir bekamen Haushaltsdefizite. Daneben gab es anderes: Watergate, den andauernden Groll über den Vietnamkrieg. Wahrscheinlich schwang auch Neid über soziale Programme mit, die vor allem Minderheiten zugute kamen. In dieses Vakuum stießen Leute wie Milton Friedman. Und Politiker, die jede Inflation als "Schuld der Regierung" bezeichneten.
Hatten die USA zuvor ein positives Verhältnis zu Regierung und zu Steuern?
Ronald Reagan hat als Gouverneur von Kalifornien 1973 versucht, eine Verfassungsänderung im Bundesstaat durchzusetzen, um die Einkommensteuer zu senken. Die Mehrheit der Kalifornier haben dagegen gestimmt, ihre Einkommensteuern zu reduzieren. Damals war Amerika noch fortschrittlich und eine Pro-Government-Nation. Dann kam die Inflation, der wirtschaftliche Aufruhr. Und die Propaganda: Die Regierung ist an allem schuld. Fünf Jahre später haben die Kalifornier ganz überwältigend den Vorschlag 13 angenommen, der ihre Einkommensteuern radikal beschnitt. Das löste eine Steuerrevolte quer durch das ganze Land aus.
Bis es so weit war, dass die Tea Party in Washington die politische Agenda bestimmt, sind vier Jahrzehnte vergangen. War es vorhersehbar, dass das passieren würde?
Das politische Pendel ist immer weiter nach rechts gegangen. Die wirtschaftliche Lage ist vierzig Jahre lang nicht gut gewesen. Der Lebensstandard stagnierte. Die Arbeitslosigkeit war - mit Ausnahme weniger Jahre am Ende des letzten und am Anfang dieses Jahrhunderts - relativ hoch. Sogar das Produktivitätswachstum war die meiste Zeit niedrig. Dennoch erzählte man uns, dass unsere Probleme gelöst werden würden. Es ist nicht selten, dass permanente ökonomische Täuschung und Enttäuschung populistischen Rechtsaußen zunutze kommt.
Sie sprechen von möglichen tragischen Konsequenzen der gegenwärtigen Situation. Was befürchten Sie?
Wir haben eine finanzielle Krise nach der anderen. Seit den 70er Jahren haben wir hunderte Milliarden Dollar in schlechte Investitionen gesteckt. Immer wieder. Am extremsten bei der Hypothekenkrise. Jetzt haben wir mehr als 9 Prozent Arbeitslose. Das ist sehr viel für Amerika. Und wenn es keine vertrauenswürdige Abmachung über die Schuldendecke gibt, ist es so gut wie sicher, dass wir erneut in eine Rezession gehen.
Was meinen Sie mit vertrauenswürdig?
Wenn es nur ein kleines Pflaster wird und der nächste Streit über die Schuldenhöhe bereits absehbar sind, werden die Finanz- und die Rentenpapiermärkte das Vertrauen verlieren. Und das könnte dazu führen, dass die Ratingagenturen, die absurd viel Macht haben, die amerikanische Wirtschaft herabstufen. Selbst dann, wenn es eine vorübergehende Anhebung der Schuldendecke gibt.
Wie viel hat denn die gegenwärtige Schuldenkrise der USA mit der Hypthekenkrise 2008 zu tun?
Viel. Zu der Finanzkrise von 2008 haben sehr hohe Schulden geführt, die auf aufgeblähten Immobilienwerten basierten. Das haben die Wirtschaftswissenschaftler unterschätzt. Und es führte in eine tiefe Rezession. Dank des Obama-Stimulus-Programms sind wir teilweise aus der Rezession herausgekommen. Aber nicht ganz. Viele Leute sind weiterhin so hoch verschuldet sind, dass sie nichts ausgeben können. Andere kommen nur knapp über die Runden. Wir schaffen keine Jobs. Und selbst wenn wir welche schaffen, steigen die Löhne nicht. Die Löhne bleiben auf dem Tiefstand. Wir stehen am Rand des Abgrunds, und Washington vergräbt sich in in Haushaltsausgleichen.
Washington befasst sich mit dem falschen Thema?
Wir sollten nicht über Haushaltsausgleich reden. Wir sollten über Jobs in Amerika reden. Und über Löhne. Wenn wir wieder zurück zu einer normalen Wirtschaftslage kommen, können wir auch unsere Schulden bezahlen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Jobs zu schaffen?
Wir brauchen mehr Regierungsausgaben. Sozialprogramme. Schaffung von Jobs. Es gibt einen Präzedenzfall dafür in der Zeit der Großen Depression. Die Regierung selbst muss Jobs schaffen und direkt einstellen. Wir müssen vermutlich auch die Jobschaffung subventionieren. Und es könnte sein, dass wir bis zu einem gewissen Grad protektionistische Methoden brauchen, um unsere Jobs in der Fabrikation zu schützen. Das wird die EU nicht gern hören. Doch das ist ein ernstes Problem in Amerika. Es gibt Dinge, die wir tun können. Aber es sind keine kleinen Schritte.
Glauben Sie, dass Präsident Obama dergleichen auch nur in Erwägung zieht?
Präsident Obama ist einige große Schritte gegangen. Die Gesundheitsreform war ein mäßig großer Schritt. Und er hat das Konjunkturprogramm (Stimulus) 2009 durchgesetzt. Das war mutig. Eine echte Leistung. Aber er hätte ein weiteres Konjunkturpaket anschließen müssen. Wenn er das getan hätte, könnte er jetzt anders auftreten. Er könnte sagen, diese Wirtschaftslage wird sich nur verbessern, wenn wir einen neuen Stimulus für Arbeitsplätze geben, und ihr Republikaner verhindert das. Aber er hat es nicht getan. Und jetzt haben die Republikaner eine Menge Munition, um ihn verantwortlich zu machen.
Hat Obama die Lage falsch eingeschätzt?
Seine wirtschaftlichen Berater waren zu optimistisch. Er hat nicht gedacht, dass diese Krise ernst sein würde. Und dass er mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit für eine Wiederwahl kandidieren würde. Es wird schwer für ihn, zu gewinnen. Die Wirtschaft muss eine Menge Wachstumsdynamik zeigen. Ab dem Herbst bleibt nur noch ein Jahr. Das ist nicht viel.
Wie bewerten Sie die Verhandlungsführung von Obama?
Ein Fiasko. Er ist viel zu früh Kompromisse eingegangen. Er hat eine Kommission eingesetzt, die Vorschläge zum Ausgleich des Haushalts entwickeln sollte, und hat einen ziemlich konservativen Demokraten und einen sehr konservativen Republikaner an ihre Spitze benannt. Alle vorliegenden Haushaltsausgleichspläne sehen sehr viel mehr Einschnitte bei den Ausgaben als Steuererhöhungen vor. Unser linker und zentristischer Präsident - den unsere Rechtsaußen als "Sozialisten" bezeichnen - er will jetzt die Sozialversicherung und Medicare beschneiden. Das ist nicht schön, anzusehen.
Ihre Prognose für den 2. August? Wird das Schuldendach erhöht?
Ich denke schon. Aber ich befürchte, dass es nicht ausreichend und langfristig genug sein wird, um den Märkten das nötige Vertrauen zu geben. Bei den Lösungen, die jetzt auf dem Tisch liegen, werden die Zinsen steigen, die Regierung wird ihre Ausgaben senken, und eine Rezession wird wahrscheinlich.
Liegt dergleichen eigentlich im Interesse der Republikaner?
Sie sind die Partei der Unternehmen. Und die Ideologie ihrer Rechtsaußen ist so ideologisch und kompromissfeindlich, dass normalerweise die Unternehmen Lobbying bei ihren republikanischen Freunden machen müssten, um ein solides Schuldendach zu bekommen.
Welche konkreten Spuren wird der Schuldenstreit hinterlassen?
Der Dollar wird wahrscheinlich fallen, weil Leute von China, über die arabischen Staaten, Europa bis nach Südamerika ihre Dollars verkaufen. Unsere Zinsen werden steigen. Der sinkende Dollar wird Exporte in die USA erschweren. Und darunter werden EU und China leiden. Und es wird eine weltweite Verlangsamung geben. Oder sogar eine Rezession. So fragil wie die europäischen Anleihen sind, könnte eine neue, ernste Finanzkrise kommen. Das sind ziemlich gefährliche Zeiten.
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