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Drangsalierung von NGOs in RusslandAls „Agentin“ im Visier des Kreml

Walentina Tscherewatenko macht Anti-Traumaarbeit im Kaukasus. Jetzt drohen der Friedensaktivistin bis zu zwei Jahre Haft.

Terroristen töteten über 330 Menschen in Beslan – Tscherewatenkos NGO leistete Anti-Trauma-Arbeit Foto: dpa

Berlin taz | „Wir haben keine Politik gemacht, sondern Volksdiplomatie. Trotz Zwistigkeiten zwischen ihren Ländern können Menschen gute Nachbarn sein. Ich will nicht das letzte Fensterchen für diese Möglichkeit zuschlagen“, erklärt Walentina Tscherewatenko, 61, aus der kleinen südrussischen Stadt Nowo­tscherkassk. Das Gespräch findet in Berlin statt. Dieses Mal durfte die Tochter aus einer russisch-ukrainischen Ehe, selbst Mutter zweier Söhne, einst Elektroingenieurin und jetzt promovierte Politikwissenschaftlerin, noch ins Ausland reisen.

Die Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation „Union der Frauen vom Don“ ist die erste natürliche Person im modernen Russland, die wegen „böswilliger Unterlassung von Verpflichtungen“ angeklagt ist. Grundlage ist ein seit 2013 existierendes und bisher nur auf ­juristische Körperschaften angewandtes Gesetz. Im Falle einer Verurteilung drohen Tscherewatenko bis zu zwei Jahren Haft.

Sie und ihre Mitstreiterinnen hatten sich geweigert, ihre Union als „ausländische ­Agentin“ zu registrieren. Dazu sind Nichtregierungsorganisationen in Russland verpflichtet, wenn sie Fördermittel aus dem Ausland beziehen oder sich politisch betätigen. „Falls du aus dem Ausland Geld bekommst“, sagt Tscherewatenko, „gilt es auch als politische Tätigkeit, wenn du Straßen fegst.“.

Ihr Verein erhielt Zuwendungen unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung und der EU. Insider erklären die Anklageerhebung gerade jetzt damit, dass der Verein Treffen von Frauen aus Russland und der Ukraine organisierte und einen Friedensprozess unter Beteiligung der Zivilgesellschaft forderte.

Umgang mit posttraumatischem Belastungssyndrom

Die „Union der Frauen vom Don“ gründete sich 1993, als Russland wirtschaftlich daniederlag. Anfangs ging es um humanitäre Hilfe für Familien in Not und um Frauenrechte. Doch schon 1996 lagerten in der Nachbarstadt Rostow 800 nicht identifizierte Leichname in Kühlcontainern – in Tschetschenien gefallene russische Soldaten.

Tscherewatenko traf die Eltern von Überlebenden. „Mein Sohn ist nicht mehr mein Sohn“, klagte die Mutter eines Tschetschenienrückkehrers: „Er geht jeden Morgen aus dem Haus und schaut, wen er jetzt umbringen könnte.“ Die „Frauen vom Don“ begriffen, was das ist: ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“. Sie luden ab sofort über Jahre Hunderte von Frauen aus den von interethnischen Konflikten erschütterten kaukasischen Nachbarstaaten zu Dialogkonferenzen ein.

Folter wird im russischen Strafvollzug nicht vereinzelt, sondern systematisch angewandt

Im und um den Kaukasus siedeln auf 440.000 Quadratkilometern fast 50 Völker mit verschiedenen Sprachen und Religionen. Das Männlichkeitsideal ist die Gestalt des Kriegers, und in militärische Konflikte untereinander waren viele von ihnen seit Jahrhunderten verwickelt. Russland hat sich von jeher nach dem Prinzip „teile und herrsche“ eingemischt.

Seit Anfang der 90er Jahre flammten diese Konflikte als grausam geführte Kriege wieder auf: so zwischen Armenien und Aserbeidschan (1988–1994), Russlands Zentrum und seiner Teilrepublik Tschetschenien (1994–1996 sowie 1999–2009), zwischen dem seit 1991 unabhängigen Staat Georgien und seinen Teilrepubliken Abchasien und Süd-Ossetien in der ersten Hälfte der 90er Jahre. Einen erneuten Blitzkrieg um Süd-Ossetien führten Georgien und Russland 2008.

Anti-Trauma-Arbeit nach Geiselnahme in Beslan

Ihre intensivste Anti-Trauma-Arbeit leisteten die „Frauen vom Don“ in der zur russischen Föderation gehörenden nordosse­tischen Stadt Beslan. Dort hatten 2004 tschetschenische Terroristen in einer Schule über 1.100 Kinder, Lehrkräfte und Eltern als Geiseln genommen. Am Ende der dreitägigen Belagerung und eines Einsatzes russischer Spezialeinheiten waren nach offiziellen Angaben über 330 Geiseln ums Leben gekommen, darunter 186 Kinder.

Tscherewatenko und ihre Mitstreiterinnen nahmen SozialarbeiterInnen und PsychotherapeutInnen dorthin mit, organisierten Sprechstunden und sorgten für die Ausbildung von Therapeutenachwuchs. Auch Selbsthilfebroschüren verteilten sie. Zum Beispiel: „Wie kann ich weiterleben nach allem, was passiert ist.“

„Sie wissen nicht, was Ihnen noch bevorsteht“, hatte vor einem Jahr ein Mitarbeiter des Justizministeriums zu Walentina Tscherewatenko gesagt. Folter wird im russischen Strafvollzug nicht vereinzelt, sondern systematisch angewandt. Hat sie sich überlegt, dass auch ihr physisch Gewalt droht? „Wie nicht?“, antwortet sie: „Aber ich lege es nicht darauf an, ins Gefängnis zu kommen.“

Die Union nimmt keine ausländischen Gelder mehr an. „Aber wir werden weiter tun, was wir getan haben“, sagt die Leiterin. Ich will mich achten können. Und wenn unsere Regierung glaubt, diesen Weg zu Ende gehen zu müssen, werde auch ich ihn zu Ende gehen“.

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