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Drama Noch während der Bergung von acht toten Walen vor der Küste Dithmarschens werden schon die nächsten gestrandeten Tiere gefundenGeruch der Verwesung

von Esther Geißlinger

Das erste ist der Geruch. Der Wind, der an diesem trüben Nachmittag scharf und feindlich über den Kaiser-Wilhelm-Koog bläst, schleppt diesen ganz speziellen Geruch mit sich und presst ihn in die Nasenlöcher. Er ist schwer und ölig, dieser Geruch, und ein wenig salzig. Es ist, ohne Frage, ein widerlicher Geruch, der lange haften bleibt und in den folgenden Tagen immer wieder wie aus dem Nichts auftaucht wie ein olfaktorisches Gespenst.

Das zweite ist der Anblick. Die Körper liegen wie große, dunkle Hügel auf dem von Stiefeln und schweren Maschinen zu Matsch zerstampften Gras. Sie liegen in einer Reihe nebeneinander auf der Seite, eine Flosse wie zu einem grausigen Gruß hochgereckt, die Schwanzflossen hängen schlaff herab, genau wie die Penisse – alle Tiere sind männlich.

Das dritte sind die Menschen. Sie stehen in Grüppchen vor dem Zaun aus orangefarbenem Plastik, den Wind im Rücken, sodass der Geruch von ihnen weggeblasen wird. Ganze Familien sind unterwegs, andere kommen allein. Die meisten haben Kameras in den Händen oder halten die Smartphones hoch, einige haben Ferngläser dabei. Zwischen den Nur-Neugierigen bewegen sich diejenigen, die dienstlich hier sind: die Leute vom Küstenschutz in ihren grünen Anzügen und die Medienleute. Allein der NDR hat mehrere Teams geschickt, aber auch die privaten Programme sind vertreten, genau wie Nachrichtenagenturen und Zeitungen. Denn schließlich findet hier, am Deich nahe des Örtchens Kaiser-Wilhelm-Koog in Dithmarschen, etwas Besonders statt: die größte Walbergung, die Schleswig-Holstein jemals erlebt hat.

Über den Superlativ könne man sich durchaus streiten, meint Küstenschützer Daniel Scheewe, der mit schweren Stiefeln durch den Matsch stapft: „2002 hatten wir schon mal drei Wale hier, praktisch an der gleichen Stelle. Die waren deutlich größer als diese hier.“ Also: Die logistische Herausforderung war gewaltiger. Aber die Zahl der toten Tiere ist jetzt höher. Und sie steigt weiter im Verlauf dieses trüben, langen Nachmittags.

Seit Beginn des Jahres sind 28 Pottwal-Bullen in der Nordsee umgekommen, 16 an den Küsten Deutschlands, je sechs in den Gewässern vor den Niederlanden und Großbritannien. Die größte Gruppe sind jene acht vor dem Kaiser-Wilhelm-Koog, die ein Spaziergänger entdeckte. Wegen heftigen Windes und steigender Flut konnte niemand sofort zu den Tieren gelangen. Mehrere der jungen Wale mögen zu diesem Zeitpunkt noch gelebt haben – als die Mitarbeiter des Küstenschutzbetriebes einen Tag später während der Ebbe mit einem Raupenfahrzeug die Sandbank erreichten, waren sieben Tiere tot, eines lag im Sterben.

Zu retten wären die Riesen aber wohl nicht gewesen, selbst wenn Menschen schneller bei ihnen gewesen wären: Aufgetrieben auf Sandbänke, hilflos im flachen Wasser, werden sie am Ende vom eigenen Gewicht erdrückt und sterben an Herz- und Kreislaufversagen. Offenbar haben die Tiere, die sich in Gruppen bewegen, die Orientierung verloren – eine These ist, dass der Lärm von Schiffsmotoren sie durchein­ander bringt. Sie biegen auf dem Weg in den Nordatlantik falsch ab, folgen dem Leittier immer weiter in die Nordsee hinein, bis ihnen buchstäblich das Wasser davonrinnt.

„Es ist einfach nur traurig“, sagt Umweltminister Robert Habeck (Grüne). Viele der Zuschauer, die an diesem Tag der Bergung zuschauen, sind da abgebrühter: „Beeindruckend“, sagt ein Junge, der mit seinem Vater und seinem kleineren Bruder am Zaun steht, und beginnt gleich zu dozieren: wie tief die Wale tauchen können, in welchen Gewässern sie schwimmen – sofern sie nicht tot am Deich liegen, versteht sich. Der Vater steht daneben und zieht den Hals in den Kragen, der Bruder schaut mit großen Augen. Sie stammen aus Marne, ein paar Kilometer entfernt: „Wir wollten mal gucken“, sagt der Vater. „Ist ja auch spannend für die Jungs, so was mit eigenen Augen zu sehen. Morgen können sie es in der Schule erzählen.“ Gruselig? Traurig? Nö, finden die Jungen. Ein Mädchen stellt sich mit dem Rücken zu Zaun und macht ein Selfie mit den dunklen Kadavern im Hintergrund.

Etwa 300 Zuschauer waren im Lauf des Tages da, schätzt Hendrik Brunckhorst, Sprecher des Küstenschutzes: „Ist doch klar, wenn so etwas passiert, kommen Neugierige.“ Die meisten stehen eine Weile da und schauen, machen Fotos, gehen dann wieder, gebückt gegen den Wind. Nur ein Mann mit Kapitänsmütze bekommt Ärger, weil er seinen Hund nicht an die Leine nimmt. Meeresbiologe Gerd Meurs-Scher, Leiter des Multimar Wattforums, knöpft ihn sich persönlich vor: „Was denken Sie sich denn eigentlich?“

Denn wenn der Hund zu den Kadavern rennt, könnte das sogar ein wenig gefährlich sein: „Explosionsgefahr“, steht auf den Schildern, die am Zaun hängen. Streng genommen könnten die Wale nicht explodieren, präzisiert Hendrik Brunckhorst: „Aber platzen, weil es in ihren gärt. Doch Platzgefahr klingt ein bisschen seltsam.“ Das Wort „Explosion“ schüchtert jedenfalls ein: Die Leute vom NDR fragen ganz vorsichtig nach, ob sie für einen Dreh eine Lampe in die Nähe der toten Wale stellen dürfen. Ja, dürfen sie.

Am ersten Tag ging gar nichts: Der Wind war zu stark, die Wellen zu hoch, die Leute konnten ihre Maschinen nicht einsetzen. Für Brunckhorst war es ein Horror, Mails und Anrufe kamen im Minutentakt, alle wollten wissen: Wann geht’s los? Was passiert? Sollen wir ein Kamerateam schicken? Dagegen ist es am zweiten Tag, als die Bergung wirklich beginnt, vergleichsweise ruhig, auch wenn das Smartphone des Sprechers weiter im Minutentakt sirrt.

Die Bergung, das ist die gute Nachricht, geht „weit besser, als wir gedacht haben“, sagt Daniel Scheewe. Die Küstenschützer hatten gehofft, an diesem ersten Tag zwei oder bestenfalls drei der Tiere – um die zehn Meter lang, rund 15 Tonnen schwer – bergen zu können. Dazu werden die Wale am Ufer, einige Hundert Meter vom Deich entfernt, mit einem Seil an einen Schlepper gebunden und zum Deichfuß gezogen.

Die Arbeit geht reibungslos, und so liegen am Ende des Nachmittags fünf der Riesen hinter dem Plastikzaun. Am nächsten Morgen werden sie auf einen Tieflader gehievt und nach Meldorf gefahren. Nahe des Hafens gibt es eine feste Plattform, die groß genug für die Wale ist – eine Hinterlassenschaft der Bundeswehr, die dort Munition ausprobierte. Da werden die Wale zerlegt – eine blutige, fettige, schwere Arbeit, ein Knochenjob.

„Die See hebt den Wal, das Spill hievt den Speck, die Männer in der Last schießen ihn auf, die Steuerleute schneiden die Streifen, das ganze Schiff arbeitet, und alles flucht, damit es besser vorangehe“, so beschrieb Herman Melville, der auf einem Walfänger zur See fuhr, in seinem berühmten Roman „Moby Dick“, wie ein Pottwal an den Haken genommen und zerteilt wird. Immerhin konnten sich die Beteiligten während der Schufterei ausrechnen, wie ihr Lohn stieg mit jeder Tonne Tran, die sie ihrem gewaltigen Fang aus dem Leib schnitten. Denn die Wale waren wertvolle Energielieferanten, im 19. Jahrhundert brannte ihr Fett in den Straßenlaternen der großen Städte. Auch die Rohstoffe für Margarine, Seife und Kunstharz wurden aus den Körpern der Meeressäuger gewonnen, die dafür zu Hunderten ihr Leben ließen.

Besonders das Walrat, eine wachsige und ölige Substanz, die es im Gehirn und Rückenmark des Pottwals gibt, war begehrt. „Waltran diente als Schmierstoff zu Beginn der industriellen Revolution“, heißt es auf der Website der Naturschützer vom WWF. „Im Ersten Weltkrieg wurde daraus Nitroglycerin hergestellt und geriet so zu einem kriegsentscheidenden Rohstoff.“ Noch 1936 habe die Firma Henkel ein eigenes Walfangschiff, die „Jan Wellem“ ausgeschickt. „Das Unternehmen brauchte Waltran zur Herstellung von Persil.“

Heute landen Fett und Fleisch in der Tierkörperverwertung: „Pottwale sind über das Washingtoner Artenschutzabkommen streng geschützt, weltweit ist der Handel mit den Tieren und den aus ihnen gewonnenen Teilen verboten“, teilt das Kieler Umweltministerium mit. Ausnahmen sind eine „Nutzung für Öffentlichkeitsarbeit, Bildung und Forschung“. So werden alle gefundenen Tiere von der Tierärztlichen Hochschule in Hannover untersucht – fünf Mitarbeiter der Universität sind bereits bei der Bergung dabei, können allerdings hier die Tiere nur von außen begutachten. Während der Zerlege-Arbeiten wird dann unter anderem der Mageninhalt analysiert, um Rückschlüsse auf die letzten Mahlzeiten und damit vielleicht auf den Kurs der Tiere ziehen zu können. Interessant sind auch etwaige Krankheiten.

Die Skelette einiger der acht Wale werden demnächst in Ausstellungen stehen. Kaum dass die Tiere an Land sind, rufen schon Museen, Institute und Forschungseinrichtungen bei der Nationalparkverwaltung an: „Die Anfragen werden derzeit geprüft“, heißt es aus dem Umweltministerium. Einen Wal museumsreif zu reinigen und zu präparieren, kostet etwa 75.000 Euro. Werden die Tiere einfach so zerlegt, ist es billiger: „Wir können dann robuster vorgehen“, sagt Brunckhorst.

Dann sirrt sein Telefon wieder, es ist ein Schiffskapitän, der einen weiteren toten Wal gesichtet hat. Sein Boot war unterwegs zu einem gestrandeten Tier, das auf der Sandbank Blauortsand nahe Büsum liegt. Auf dem Weg sah die Besatzung den nächsten Kadaver. Und auch an der Küste Ostenglands wurde ein weiterer gestrandeter Wal gefunden – atmend, aber ohne große Überlebenschancen.

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