: „Drahtzieher der Konterrevolution“
■ Chen Ziming und Wang Juntao wurden zu je 13 Jahren Haft verurteilt PORTRÄT
Nachdem er erst kurz vor Prozeßbeginn die Anklageschrift erhalten hatte, war Chen Ziming am Wochenende in den Hungerstreik getreten. Und das sicherlich nicht aus politischer Naivität oder aus Unkenntnis der chinesischen Gesetze und Rechtspraxis. Der Direktor des Pekinger Institus für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften war, wie auch sein mit ihm verurteilter Arbeitskollege Wang Juntao, schon seit den siebziger Jahren an den Aktivitäten und Diskussionen um Demokratie und Rechtssystem in China beteiligt. Nach der Niederschlagung des Tiananmen-Aufstandes gegen die „Viererbande“ (nach dem Tode Zhou Enlais) im Jahre 1976 saßen beide zum ersten Mal im Gefängnis. Wieder frei, beteiligten sie sich an der Herausgabe der Zeitschrift 'Beijing Spring‘, einer der inoffiziellen Publikationen der Demokratiebewegung von 1978/79. Sie nutzten die kurze Periode der Liberalisierung Mitte der achtziger Jahre, die eine neue Offenheit des politischen Diskurses ermöglichte, und beteiligten sich an der Gründung eines eigenen Verlags und mehrerer Studiengruppen. Der damalige Premier Zhao Ziyang und KP-Generalsekretär Hu Yaobang hielten ihre Hand noch schützend über chinesische Intellektuelle, die die Diskussion um die Reform des Wirtschaftssystems immer stärker mit der Forderung nach einer Reform des politischen Systems verbanden. Nichtstaatliche Forschungsinstitute und Publikationen wie der Shanghaier 'World Economic Herald‘ und der Pekinger 'New Observer‘ veröffentlichten Sozialreportagen, kritisierten Bürokratie und Privilegien der Kader, prangerten Korruption an und initiierten Debatten über zukünftige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle. Seit 1986 entwickelte sich das Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu einem der Zentren der Reformdiskussion. Zu den Aktivitäten des Instituts zählten über vierzig Forschungsprojekte ebenso wie eine Reihe von vielbeachteten Konferenzen und Veröffentlichungen. Im Frühjahr 1989 organisierte es Versammlungen und unterstützte die hungerstreikenden Studenten. Nach der blutigen Niederschlagung der demokratischen Bewegung am 4.Juni versuchten Chen und seine schwangere Frau Wang Zhihong, nach Hongkong zu fliehen, wurden jedoch fünf Monate später in Südchina verhaftet. Im Gefängnis verlor Wang ihr Baby. Ein Jahr nach ihrer Verhaftung wurde sie, ohne daß eine Anklage erhoben worden sei, freigelassen. Gemeinsam mit Chen und seiner Frau war auch Wang Juntao verhaftet worden. Am 24.November 1990 wurden seine Verwandten informiert, er werde wegen „konterrevolutionärer Propaganda und Agitation“ sowie wegen des Versuchs, „die Regierung zu stürzen“, vor Gericht gestellt. Jutta Lietsch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen